Götz Werners kritische Stellung zur Naturwissenschaft hat in dieser Weise nichts mit Goethe zu tun

 

von Ingo Hagel

 

 

Es mag ja sein, wie Götz Werner schreibt, dass „Goethe sein Prinzip des unvoreingenommenen Anschauens“ „bis ins hohe Alter immer wieder ganz bewusst praktizierte“ – nur mit dem oben bereits beschriebenen Unterschied, dass er „sein“ Prinzip praktizierte und nicht das, was Götz Werner dafür hält. Werner schreibt zu Goethes Wissenschafts-Impuls:

Das größte Problem beim Anschauen stellen aber unsere derzeitigen Kulturmuster dar. Mehr und mehr Menschen meinen, die Welt nur noch als physikalisch-naturwissenschaftliches Phänomen betrachten zu können, mit den chemischen, physikalischen und biologischen Ausstattungen, die die Wissenschaftler dem Menschen zubilligen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, lässt Antoine de Saint-Exupéry seinen kleinen Prinzen sagen. Ich bin mir sicher, dass Johann Wolfgang von Goethe seine Anleitung zur Anschauung genau so gemeint hat.

Anmerkung: Auch wenn Viele das für spitzfindig halten mögen: Nicht die Meinung von „mehr und mehr Menschen“, „die Welt nur noch als physikalisch-naturwissenschaftliches Phänomen betrachten zu können“ ist „die halbe Wahrheit“, sondern die Erkenntnis, dass das, was der Mensch von der Welt über die Sinnesauffassung sowie über den Weg der „chemischen, physikalischen und biologischen“ Methoden erfährt, nur ein Teil der Wirklichkeit ist.   

Natürlich erhält man mit kritischen Bemerkungen zur modernen Naturwissenschaft bei vielen Menschen Zustimmung, da deren Denkmethode meistens als kalt und unmenschlich erlebt wird. Daher wenden sich diese lieber ans Gefühl, das Herz. Leider sagt Werner nicht, wie dieses Sehen mit dem Herzen zu verstehen ist – besonders auf dem Gebiet der Naturwissenschaft. Und so bleibt aus seiner Kolumne zu einem Wissenschafts-Impuls Goethes nur eine missverständliche anti-wissenschaftliche Haltung übrig.

Anmerkung: Im übrigen gehen dieselben Leute, die mit der Naturwissenschaft nicht viel anfangen können, bei nächstbester Gelegenheit in die Auto- und Elektronikmärkte usw. und holen sich – wenn‘s finanziell geht – die neuesten diesbezüglichen technischen Errungenschaften. Ich kritisiere das nicht, aber es belegt die zweispältige Haltung des heutigen Menschen zur Naturwissenschaft beziehungsweise deren Umsetzungen in die Technik. Auf dem von Götz Werner skizzierten Weg wird da allerdings nicht herauszukommen sein.

Götz Werners Verweis auf Antoine de Saint-Exupéry, und dass man nur mit dem Herzen gut sehen soll, ist missverständlich, denn die meisten Menschen verbinden damit nicht mehr als die bekannten Gemütsregungen des gewöhnlichen Fühlens. Die haben auf ihrem Gebiet ihre Berechtigung – da neben dem Denken natürlich auch das Fühlen und das Wollen zum Menschen gehören. Sie haben aber in dieser Weise nichts mit dem Wissenschafts-Impuls Goethes zu tun. Götz Werner ist es entgangen, wieviel Naturwissenschaftliches in Goethes Weltanschauung steckt. Will man daher wirklich wissen, um was es sich beim Goetheschen Erkenntnis-Impuls handelt, kann es aufschlussreich sein, das in sein denkendes Bewusstsein aufzunehmen, was Rudolf Steiner, der sich sein ganzes Leben lang bemühte, seinen Zeitgenossen und der Nachwelt ein Verständnis dazu zu vermitteln, dazu an so vielen Stellen ausführte. Steiner bezeichnete Goethe als den „modernsten Geist“ seiner Zeit – und der nächsten weit über tausend Jahre – was heißt, dass da noch für Generationen viel Erkenntnisarbeit zu leisten ist, die zu realisieren hat, was Goethe an Gewaltigem veranlagt hat. Rudolf Steiner, dessen

hauptsächlichste erste öffentliche literarische Tätigkeit mit dem Namen Goethe verknüpft ist, 

war so intensiv mit dem geistigen Impuls Goethes verbunden,

dass ich meiner Privatmeinung nach das Haus, in dem die Geistesrichtung gepflegt werden soll, die ich meine (die Anthroposophie; Anmerkung IH), am liebsten Goetheanum nennen möchte.

Vermutlich wären die Leser des dm-Magazins sehr überrascht, von Rudolf Steiner (GA 185) zu hören, dass Goethes Weltanschauung etwas ist, das

ruht auf solidem naturwissenschaftlichem Boden. Es gibt keine solide Weltanschauung in der Gegenwart, die nicht auf naturwissenschaftlichem Boden ruhen könnte. Daher ist so viel Naturwissenschaftliches in dem Buche, mit dem ich 1897 meine damaligen Goethe-Studien abgeschlossen habe (Goethes Weltanschauung (GA 6); Anmerkung IH), und das jetzt in neuer Auflage wiederum erschienen ist aus ähnlichen Gründen, wie die Neuauflage der «Philosophie der Freiheit» erschienen ist.

Immerhin trägt diese «Philosophie der Freiheit» Rudolf Steiners nicht umsonst den auf diese Methode verweisenden Untertitel

Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode

Beobachtet (angeschaut) werden soll hier also ein Seelisches – und nicht nur die Welt der Sinne, die Beobachtungsobjekt der Naturwissenschaft ist. Goethes Impuls – sowie der Anthroposophie  – beinhaltet also nicht die Ablehnung der Naturwissenschaft und ihrer Methode und den Rückzug in die gewöhnliche Herzlichkeit des Gemüts (und der gewöhnlichen Anschauung).

Anmerkung: Diese wird unter dem herrschenden„derzeitigen Kulturmuster“ ja sowieso nur immer weiter den Bach runtergehen, wenn nicht das Gemüt (das „Herz“) in die Sphäre eines neuen Denken – aber „nach naturwissenschaftlicher Methode“ – hinaufgehoben wird, aus der heraus erst wieder des Menschen Gemüt und Herz in wahrhaft menschlicher Weise entzündet werden kann.

Rudolf Steiner verstand unter dem Impuls Goethes und des Goetheanums etwas völlig anderes:

Demgegenüber stellt sich die Anschauungsart des Goetheanums als eine solche, die im vollen Sinne den gegenwärtigen Gesichtspunkt der naturwissenschaftlichen Forschung bejaht und da anerkennt, wo er berechtigt ist.

Diese

einseitigen mechanistischen Vorstellungen sind außerordentlich arm an Weltinhalt; sie enthalten im Grunde genommen nur das Tote. Aber sie sind ein Erziehungsmittel außerordentlicher Art; das ist ja auch heute zu merken. Eigentlich scharf denken können nur diejenigen Menschen heute, welche sich gewisse naturwissenschaftliche Vorstellungen angeeignet haben. Die anderen sind versucht, verschwommen zu denken.

Es ist niemandem ein Vorwurf daraus zu machen, dass er nicht Wissenschaftler geworden ist. Aber wenn Ansichten zu Goethes Weltanschauung besprochen werden sollen, dann muss auf manches hingewiesen werden dürfen, was zu deren Verständnis nötig ist.

 

Hier weiterlesen: 

Teil 1: Zu Götz Werners missverstandener Auffassung von Goethes Weltanschauung

Teil 2: Götz Werners kritische Stellung zur Naturwissenschaft hat in dieser Weise nichts mit Goethe zu tun

Teil 3: Die Anschauungsart Goethes und der Anthroposophie bejaht im vollen Sinne den Gesichtspunkt der naturwissenschaftlichen Forschung

Teil 4: Götz Werner übersieht die Grundbegriffe einer modernen Erkenntnis- und Wissenschafts-Praxis

Teil 5: Ohne den Willen zum Denken ist aus dieser Sackgasse der anschauenden Sinneswahrnehmung nicht herauszukommen

Teil 6: Selbst Schiller konnte Goethes Anschauung eines Ideellen nicht verstehen

Teil 7: Zur Bedeutung einer Beobachtung des Denkens für eine wirklichkeitsgemäße Erfassung der Welt

Teil 8: Viele meinen, Goethes Weltanschauung sei etwas total Überflüssiges 

Teil 9: Götz Werners verpasste eine große Chance, die Soziale Dreigliederung ins Bewusstsein der Menschen zu bringen

 

 

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Götz Werners kritische Stellung zur Naturwissenschaft hat in dieser Weise nichts mit Goethe zu tun wurde am 18.11.2014 unter Hide veröffentlicht.

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