Roland Düringers Wutbürgerrede und die Soziale Dreigliederung

von Ingo Hagel

Roland Düringer sprach in seiner berühmten Wutbürgerrede für die sogenannte Mittelschicht (nicht links, nicht rechts, nicht wirklich arm, nicht wirklich reich ….), zu der er sich ebenfalls zugehörig fühlte, indem er sagte:

wir sind all jene, die nicht verstehen können, dass die Zehn Gebote aus 279 Wörtern, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung aus 300 Wörtern und die EU-Verordnung über den Import von Karamelbonbons aus 25.911 Wörtern bestehen muss.

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und fügte an, diese Mittelschicht habe es langsam satt, im Hamsterrad zu laufen. Sie sei

wütend, weil wir angelogen werden, und das ständig, und keiner unserer Politiker den Mut hat und die Eier, endlich aufzustehen und die Wahrheit zu sagen. Dass uns nämlich das Wasser langsam bis zum Hals steht. Und alle Systeme in einem künstlichen Wachkoma gehalten werden. Wir sind wütend, ziemlich wütend, weil diese Politmarionetten offenbar ihre Aufgaben vergessen haben, nämlich uns, der Gemeinschaft zu dienen und nicht gemeinsam mit Banken und den Konzernen über das Volk zu herrschen. …. Wir sind einfach nur wütend, weil es in diesem Land keine Pressefreiheit gibt, und wir von abhängigen Medien entweder mit geistigem Müll oder Falschinformationen zugeschissen werden. …. Wir sind wütend, weil wir endlich aufwachen …. weil wir merken, dass wir den Maschinen dienen, in Wirklichkeit sind wir freie Individuen mit einem Geist und einer Seele ….

Der österreichische Standard fragte ihn, ob er Anfragen aus der Politik erhalten habe. Düringer meinte (Hervorhebungen IH):

Es kamen Anfragen, ob wir nicht eine Partei gründen sollten. Aber das halte ich genau für den falschen Schritt. Dann bin ich Teil dieses Systems. Und das System ist am Ende, beim Geldsystem merkt man es jetzt am ehesten, aber auch das Gesundheitssystem wird bröckeln, dann das Pensionssystem. Was wir wirklich verändern müssen, ist unser Denken. Wir müssen größer denken lernen. Wir müssen erkennen, was hat wirklich einen Wert und was wird uns nur als Wert verkauft. Welchen Dingen laufen wir nach, die wir nicht brauchen. Es hat keinen Wert und bringt kein Lebensglück, wenn man dem Geld nachläuft. Wenn wir in unserem Tun und unserem Handeln etwas ändern würden, dann würde das System auch nicht funktionieren. Es macht keinen Sinn, am Stammtisch über Politiker zu schimpfen und dann brav zur Urne zu schreiten und ein Kreuzerl zu machen.

Standard: Sie meinen, es hat gar keinen Sinn zu wählen?

Düringer: Nicht wählen ist ganz schlecht. Man müsste vielleicht zur Wahl gehen und dort einen anderen Zettel abgeben. Auf dem steht: „Gültige Stimme“. Und den werfe ich hinein, ich habe eine gültige Stimme abgegeben, die aber besagt: Ich will dieses Angebot nicht.

Am Ende des obigen Clips lässt sich das Publikum von Düringers „Wir sind wütend“ mitreißen, steht auf und schreit mit. Vielleicht war es diese erschreckend unindividuelle, fast mobartig anmutende Reaktion, die Roland Düringer veranlasste, auf das Negative und Zerstörerische einer reinen gedankenlosen Wut hinzuweisen:

Düringer: Ich bin eigentlich nicht wirklich wütend. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es gescheit war zu sagen: „Wir sind wütend.“ Weil wütend hat so etwas Negatives. Das wirkt zerstörerisch. Aber es hat halt etwas ausgelöst. Wenn ich es anders genannt hätte, etwa „Verändern wir uns“ oder „Wie wollen wir leben?“, dann würden wir zwei jetzt auch kein Interview machen. Vielen geht jetzt ein Licht auf….

Düringer hat recht: „Was wir wirklich verändern müssen, ist unser Denken.“ Aber leider werden Gedanken so wenig geschätzt. Die Reaktion des Publikums – des von Düringer angesprochenen Mittelstandes, der sich in der Tat angesprochen fühlte – zeigte, dass es im Moment wohl eher auf „wütende“ Revolutionen hinausläuft, als dass der Mittelstand sich dem Gedanken zuwendet. Oder liegt es daran, dass zwar so viele Gedanken vorliegen, die das Scheitern von dem beschreiben, was Düringer „das System“ nennt, aber kaum etwas, das diesem offensichtlichen Scheitern Perspektiven eines Aufstiegs weist? Jedenfalls ist klar (und vielfach hier auf Umkreis-Online und an anderen Stellen beschrieben), was Düringer über „das System“ sagt: „Und das System ist am Ende“.

Das politische System ist bankrott

Fassen wir Düringers Rede zusammen: Das politische „System“ der Politmarionetten, die uns nicht die Wahrheit sagen ist bankrott. Es dient nicht mehr der Gemeinschaft (s. dazu auch hier und hier auf Umkreis-Online). Viele Menschen empfinden es daher als völlig abwegig, eine Partei zu gründen, da diese eben wieder einen Teil „des Systems“ darstellte beziehungsweise sich in dessen Spielregeln einfügen müsste. Daher ist diese Haltung verständlich.

Das System der Wirtschaft ist bankrott

Auch „das System“ der Wirtschaft ist bankrott. Wie Düringer sagte, macht es gemeinsame Sache mit den Politikern und herrscht über das Volk anstatt der Gemeinschaft zu dienen.

Anmerkung: Albrecht Müller von den Nachdenkseiten hat diesen Punkt kürzlich (nachdem er dort ebenfalls an etlichen Beispielen den Bankrott des politischen Systems veranschaulichte), in einem Artikel in der FAZ noch einmal aufgegriffen, indem er beschrieb, dass man als normal Wirtschaftender und Arbeitender – das heißt, wenn man nicht zu den Bankiers- und Finanzkreisen gehört – keine Lebensperspektive hat (Hervorhebungen IH):

Der Vorstandsvorsitzende von Bosch, Franz Fehrenbach, beklagte im September, die Finanzmärkte seien wieder kurz davor, die Weltwirtschaft in eine neue Krise zu reißen; man könne in der Realwirtschaft schuften und machen – gegen die Spekulation komme man nicht an. Er spricht sich ähnlich wie andere Manager für eine schärfere Regulierung der Banken aus und plädiert dafür, viele Finanztransaktionen zu verbieten, die nichts mehr mit realen Geschäften zu tun haben. Doch die Politik wagt es nicht, die Ausweitung des Kapitalmarktes zum Finanzcasino und die Vorherrschaft der Investmentbanker und Spekulanten in Frage zu stellen. Lobby und PR haben es geschafft, dass die Finanzindustrie sich ein besonders dickes Stück vom Volkseinkommen abschneiden konnte.

Das Geistesleben ist ebenfalls bankrott

Und das Geistesleben? Nun, wenn wir stellvertretend dafür einmal die Presse und Medien nehmen, dann gilt, wie Düringer sagte, der Bankrott auch dort:

Wir sind einfach nur wütend, weil es in diesem Land keine Pressefreiheit gibt, und wir von abhängigen Medien entweder mit geistigem Müll oder Falschinformationen zugeschissen werden.

Roland Düringer, ein Künstler, hat also aus sich heraus in einem europäisch eigentlich ungeheuer leuchtenden Moment mit seiner Wutbürgerrede auf das grundlegende Problem hingewiesen: „das System“ ist am Ende, weil die drei Systeme Wirtschaft, Staat (Politik) und freies Geistesleben heute „am Ende“ sind. Wirtschaft und Politik beziehungsweise Staat sind völlig miteinander verflochten und verfilzt. Und ein freies Geistesleben existiert als sozialer Körper („System“) – abgesehen von etlichen persönlichen Ausnahmen – nicht, da es ebenfalls vom Wirtschaftsleben beziehungsweise der Politik unterdrückt und seiner Freiheit beraubt wird. Damit hat Düringer – natürlich, ohne es zu wissen, aber in aller Kürze, umfassend und vollständig – die von Rudolf Steiner beschriebene Soziale Dreigliederung (s. zum Beispiel hier, hier, hier und hier auf Umkreis-Online) als Heilung „des Systems“ gefordert, indem er zum einen auf die Notwendigkeit einer Entflechtung von Wirtschaft und Politik hinwies und zum anderen ein freies Geistesleben forderte.

Und der Standard meinte in einem Versuch, mediale Nebelkerzen auf den Kern seiner bemerkenswerten Rede zu werfen:

….Die leidenschaftliche Tirade Düringers in Wutbürger-Rolle sagt nichts Konkretes. Düringer packte nur etwas Wut in den Wutbürger. Als exemplarischer Aufschrei, in dem sich viele wiederfinden, sagt er durchaus etwas aus.

Wäre ja nicht auszudenken, wenn die Menschen aufgrund Düringers Rede anfangen würden, tiefer nachzudenken. Wie sagt man dazu auf gut Österreichisch? Diese Trotteln!


Roland Düringers Wutbürgerrede und die Soziale Dreigliederung wurde am 15.12.2011 unter Soziale Frage veröffentlicht.

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