Rudolf Steiner zum Buch „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler

 

Aus Nr. 198 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 134:

 

Wer heute in Deutschland sich ein wenig umsieht und nicht auf Äußerlichkeiten geht, sondern mit dem Auge der Seele sieht, wer also nicht allein ins Auge fasst, was sich etwa dem Besucher darbietet, der ja in der Regel die Verhältnisse während seines Besuches gar nicht kennenlernt, wer nicht dabei stehenbleibt, dass wiederum einige Schornsteine rauchen, dass die Eisenbahnzüge zur rechten Zeit an ihrem Bestimmungsorte ankommen, sondern wer etwas in die geistige Verfassung hineinzuschauen vermag, dem bietet sich heute ein Bild, das symptomatisch ist nicht für dieses Territorium allein – denn das könnte vielleicht noch von der einen oder von der anderen Seite weniger bedenklich beleuchtet werden -, sondern für den ganzen Verfall unserer Weltkultur im gegenwärtigen Zyklus der Menschheit. Ich möchte heute gerade auf ein geistig-seelisches Symptom Sie einleitend hinweisen, das bedeutsamer ist, als viele schlafende Seelen auch in Deutschland sich träumen lassen. 

Innerhalb des alten Deutschland herrscht ja heute Verfall, Niedergang, und die äußerlichen Dinge, die ich natürlich nur zum Teil aufgezählt habe, können nicht über diesen Niedergang täuschen. Aber das alles ist in geistig-seelischer Beziehung nicht das, worauf ich jetzt hinweisen möchte, denn Verfall sehen wir vielfach im Laufe der Weltgeschichte auftreten, und aus dem Verfall sehen wir dann wiederum die Aufgangsimpulse herausquellen. Aber wer zunächst äußerlich urteilt, wer von dem, was oftmals erfahren worden ist, aus einem Gewohnheitsurteil heraus sich sagt: Nun, das wird schon auch hier in derselben Weise wiederum so sein wie früher -, der sieht doch nicht auf gewisse tieferliegende Symptome. Ein solches Symptom, aber eben nur eines von vielen, ein geistig-seelisches, das ich hervorheben möchte, ist der merkwürdige Eindruck, den ein Buch hervorgerufen hat, ich meine das Buch «Der Untergang des Abendlandes» von Oswald Spengler, welches schon dadurch symptomatisch ist, dass es in unserer Zeit hat entstehen können. Es ist ein dickes Buch und es ist ein vielgelesenes Buch, ein namentlich unter der jungen Generation des heutigen deutschen Territoriums außerordentlich eindrucksvolles Buch. Und das Merkwürdige ist: der Verfasser erzählt ausdrücklich, dass er die Grundidee dieses Buches nicht etwa gefasst habe während des Krieges oder nach dem Kriege, sondern dass er diese Grundidee schon einige Jahre vor der Katastrophe vom Jahre 1914 gefasst hat. 

Das Buch macht einen sehr bedeutsamen Eindruck gerade auf die junge Generation. Und wenn man in seinen Empfindungen versucht, aus dem heraus zu sprechen, was da vorhanden ist, so tritt einem, ich möchte sagen, unter den Imponderabilien des Lebens, so zwischen den Zeilen des Lebens dies ganz besonders stark entgegen. Ich hatte einen Vortrag zu halten vor den Stuttgarter Studenten der Technischen Hochschule, und ich ging eigentlich zu diesem Vortrage durchaus unter dem Eindrucke des Buches von Oswald Spengler «Der Untergang des Abendlandes». Es ist ein sehr dickes Buch. Dicke Bücher sind jetzt in Deutschland teuer; dennoch wird es viel gelesen. Dass sie teuer sind, das kann ich Ihnen daran veranschaulichen, dass ein Reclam-Heftchen, das 1914 noch zwanzig Pfennig gekostet hat, jetzt eine Mark und fünfundvierzig Pfennig kostet. Bücher sind ja nicht in demselben Verhältnisse gestiegen wie Bier, das wohl das Zehnfache des Preises von 1914 kostet, Fett sogar das Dreißigfache. Bücher müssen sich immer in bescheidenen Grenzen halten, selbst wenn solch unhaltbare wirtschaftliche Verhältnisse zugrunde liegen. Aber immerhin zeigt auch der Preisaufschlag der Bücher, was in den wirtschaftlichen Untergründen der letzten Jahre sich vollzogen hat. 

Das Buch von Oswald Spengler habe ich bei einem meiner öffentlichen Vorträge in Stuttgart sehr ernst genommen, aber auch sehr ernst bekämpft. Dieses Buch ist im Grunde genommen seinem Inhalte nach bald charakterisiert. Es stellt dar, wie die Kultur des Abendlandes heute an einem Punkte angekommen ist, an welchem die untergegangenen Kulturen, wenn man sie nacheinander studiert, im alten Morgenlande, in Griechenland und Rom, auch einmal in einem gewissen Zeitabschnitte angekommen waren; und Spengler rechnet aus, dass dieses völlige Untergehen der gesamten abendländischen Kultur nach strenger historischer Rechnung mit dem Jahre 2200 vollendet sein müsse. 

Aber heute kommt es nicht nur auf den Inhalt einer solchen Sache an, sondern ebenso stark wie auf den Inhalt auf die geistig-seelischen Qualitäten eines Buches. Heute kommt es darauf an, ob der Verfasser, gleichgültig welcher Weltanschauungstendenz er angehört, geistige Qualitäten hat, ob er eine geistig ernst zu nehmende und vielleicht sogar geistig hoch einzuschätzende Persönlichkeit ist. Das ist ohne Zweifel der Verfasser des Buches, denn der Mann beherrscht, man darf sagen vielleicht zehn bis fünfzehn gegenwärtige Wissenschaften vollständig. Der Mann hat ein eindringliches Urteil über das, was im historischen Werden, so weit die Geschichte reicht, sich ereignet hat, und er hat auch, was ja die jetzigen Menschen eigentlich fast gar nicht haben, einen gesunden Blick für die Niedergangserscheinungen der gegenwärtigen Zivilisationen. Es ist im Grunde genommen ein großer Unterschied zwischen einem Spengler und all denjenigen Leuten, die heute gar nicht fühlen, was Niedergangsimpulse sind und alle möglichen Veranstaltungen treffen, um aus den Niedergangsurteilen heraus, was ja unmöglich ist, irgendeine Aufgangserscheinung abzuleiten. Wäre es nicht zum Herzschmerzbekommen, so wäre es eigentlich humoristisch, wie sehr die Menschen heute mit den altgewohnten, aber eben von Niedergangsimpulsen durchzogenen Ideen sich versammeln und glauben, aus dem Niedergange heraus durch allerlei Programme Aufgangserscheinungen schaffen zu können. Solch einem Wahnaberglauben gibt sich aber ein Mensch, der nun wirklich etwas weiß, wie Oswald Spengler, eben nicht hin, sondern er rechnet gewissermaßen – ich möchte sagen als strenger Mathematiker – die Geschwindigkeit der Niedergangserscheinungen aus, und mit einem Urteil, das wahrhaftig mehr als eine vage Prophetie ist, kommt er dazu, abzuleiten, wie bis zum Jahre 2200 diese abendländische Kultur in die vollständige Barbarei verfallen sein müsse. 

Es ist dieses Zusammentreffen des äußerlich, namentlich auf geistig-seelischem Gebiete überall auftretenden Niederganges mit der Auffassung eines ernst zu nehmenden Theoretikers, dass dieser Niedergang ein notwendiger sei, ein solcher, der sich mit einer gewissen natürlich-historischen Gesetzmäßigkeit vollzieht, es ist dieses Zusammentreffen das Merkwürdige an diesem Buche und es ist dieses Zusammentreffen dasjenige, was eigentlich auf die junge Generation einen besonderen Eindruck macht. Man hat heute nicht nur Niedergangserscheinungen, man hat auch schon Theorien, welche diesen Niedergang als notwendig bezeichnen, ihn als streng wissenschaftlich erweislich darstellen. Man hat mit anderen Worten nicht nur den Niedergang, man hat eine Theorie des Niederganges, und zwar eine sehr ernst zu nehmende Theorie. Und man möchte fragen: Woher sollen die Kräfte kommen, jene innerlichen Willenskräfte, welche die Menschen anspornen, aus sich heraus zu einem Aufstieg zu kommen, wenn die Besten aus ihren Theorien heraus, aus einem umfassenden Überblicke über zehn bis fünfzehn Wissenschaften der Gegenwart heraus dahin kommen, mit alledem, was diese Wissenschaften enthüllen wollen über den Gang der Natur und der Menschheit, zu sagen: Dieser Niedergang ist nicht nur da, dieser Niedergang lässt sich beweisen wie irgendein physikalischer Vorgang! – Das heißt, es beginnt bereits die Zeit, wo der Glaube an den Niedergang nicht von den Schlechtesten vertreten wird. Man muss immer wieder und wiederum betonen, wie ernst eigentlich die Zeit ist, und wie fehlerhaft es ist, diesen Ernst der Zeit zu verschlafen, zu verträumen.   

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Rudolf Steiner zum Buch „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler wurde am 01.02.2018 unter Hide veröffentlicht.

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