Rudolf Steiner zur Geburt des Geistes aus dem Schmerz des Erlebens einer geistlosen und toten Naturwissenschaft heraus

 

 

Aus Nr. 190/S. 183ff der Rudolf Steiner Gesamtausgabe. Es braucht nicht so sehr viel, um in einem die Ahnung aussteigen zu lassen, dass der hier veranschlagte Weg auch der sein wird, um die vielen anderen Problemherde auf sozialem, gesellschaftlichen und politischen Gebiet unserer heutigen „Kultur“ ihrer Lösung zuzuführen (Anmerkung IH).

 

Ja, woher rührt es denn aber, dass durch diese ganze glanzvolle Kulturentwickelung hindurch der Begriff, das Erleben, das Erfühlen des eigentlichen Geistes fehlt? 

Tastend haben Leute wie Troxler, wie auch manchmal Schelling, hingewiesen auf den Geist. Aber rein objektiv gesehen, muss man sagen: In dieser ganzen Kultur fehlt der Geist. Und weil der Geist fehlte, kannte man auch nicht die Bedürfnisse des Geistes, kannte man nicht die Lebensbedingungen des Geistes. Das ist wiederum etwas, was als tragische Empfindung hervorquellen kann aus der Wahrnehmung dieser Kulturströmung, dass man innerhalb ihrer die Lebensbedingungen des Geistes, auch die sozialen Lebensbedingungen des Geistes nicht wahrzunehmen, nicht zu empfinden vermochte. Daran liegt es aber, dass sich das mitteleuropäische soziale Leben durch die Jahrhunderte herauf entwickeln konnte und, weil es kein eigentliches Erlebnis vom Geiste hatte, auch nicht das Bedürfnis bekam, die Grundbedingungen dieses Geisteslebens dadurch zu erfüllen, dass man das Geistesleben emanzipiert, auf sich selber stellt und von dem Staatsleben absondert. Weil man den Geist nicht kannte, kannte man auch nicht die innersten Lebensbedingungen des Geistes, empfand daher nicht die Notwendigkeit – ich rede immer nur von diesen Gebieten, bei den anderen Gebieten der gegenwärtigen zivilisierten Welt empfand man es auch nicht, aber aus anderen Gründen -, den Geist auf sich selbst zu stellen, sondern ließ ihn verschmelzen mit dem, worinnen er sich nur in Fesseln entwickeln konnte: mit dem Staatswesen. 1200, sagte ich, ist der Zeitpunkt, in dem auch die Tätigkeit Walthers von der Vogelweide verzeichnet werden kann, der Zeitpunkt, in dem das geistige Leben Mitteleuropas in mächtigen Imaginationen dahinpulste, von denen die konventionelle Geschichte wenig verzeichnet. Dann gleitet dieses Geistesleben durch die Jahrhunderte weiter, nimmt aber eigentlich schon vom 15., 16.Jahrhundert an die Keime des Niedergangs in sich auf, und es stellt sich hinein in dieses Geistesleben Mitteleuropas die Begründung der Universitäten Prag, Ingolstadt, Freiburg, Heidelberg, Rostock, Würzburg und so weiter. Die Begründung dieser Universitäten, die sich so aussäen über das mitteleuropäische Leben, fällt fast ganz in ein Jahrhundert hinein. Mit diesem Denken, mit diesem Leben, das von den Universitäten ausstrahlte, wurde die Tendenz gebracht nach dem Abstrakten, nach demjenigen, das dann als das rein naturwissenschaftliche Denken vergöttert und verehrt wurde – vergöttert kann man natürlich nur vergleichsweise sagen – und das heute so verheerend in die Denkgewohnheiten der Menschen eingreift. 

Und mit diesem Leben wurde im Grunde genommen der ganzen gebildeten Bürgerwelt die Nuance gegeben. Wie war denn diese Nuance der ganzen gebildeten Bürgerwelt? Natürlich spricht da vieles mit, was nicht in jedem einzelnen, ich möchte sagen, quellenhaft wirkte, aber dessen Wirkung auf jeden einzelnen überging. Es wirkte das mit, dass ja in dieser Zeit immer mehr und mehr heraufkam die Empfänglichkeit für ein ganz fremdes Seelenleben, das gebildet wurde durch Träger der Bildung in diesem Bürgertum, das dann in Goethe und Herder und Schiller kulminierte. Das entwickelte ja außer dem, was in der eigenen Seele lag, im wesentlichen fremde Elemente, fremde Impulse.

Damit weise ich auf eine ungeheuer charakteristische Erscheinung hin. Die Seelen dieser Leute, die Träger des Bürgertums waren, sie suchten ja nach dem Geiste, dessen Begriff sie nicht einmal hatten. Aber wo suchten sie nach dem Geiste? In der griechischen Bildung. Sie lernten in ihren Mittelschulen griechisch, und was als Geistesinhalt in die Seelen floß, war griechischer Inhalt. Wenn man vom 13. Jahrhundert bis ins 20.Jahrhundert in Mitteleuropa vom Geist sprach, hätte man immer sagen müssen: Dasjenige, was einem die eingeimpfte griechische Bildung über den Geist beibrachte. Es entstand da kein eigenes Leben über den Geist. Griechische Bildung aber über den Geist war noch nicht die Bildung desjenigen Zeitraumes in der Menschheitsentwickelung, den wir den Zeitraum der Bewusstseinsentwickelung nennen. Der beginnt erst mit der Mitte des 15. Jahrhunderts. So trug dieses Bürgertum in sich veraltete Bildung, griechische Bildung, und die gab ihm allein dasjenige, was der Grieche vom Geiste eigentlich fühlte und empfand. 

Dasjenige aber, was der Grieche vom Geiste empfand, das war durchaus bloß die Seelenseite des Geistes. Darin liegt ja die Tiefe des Griechentums, dass der Grieche gewissermaßen gerade hinaufgelangte bis zur Empfindung des höchsten Seelischen. Das nannte er Geist. Gewiss, der Geist erglänzt herunter aus den Höhen. So wie ich ihn hier zeichne, erglänzt er aus den Höhen herunter, durchpulst das Seelische. Aber wenn man den Blick hinaufrichtet, so hat man das Seelische des Geistes. 

Aber es wurde die Aufgabe des fünften nachatlantischen Zeitraums, sich zu erheben in den Geist selbst. Das konnte diese Kulturentwickelung noch nicht. Das ist viel wichtiger, als man gewöhnlich denkt. Denn das klärt auf über die ganze Art, wie neuzeitlich-mittelalterliche Bildung von dem Geist Besitz ergreifen konnte. 

Was war denn notwendig, um zu einem Begriff des Geistes, zu einem inneren Erleben des Geistes im neuzeitlichen Sinne zu kommen? 

Gerade an einer solchen repräsentativen Erscheinung wie Herman Grimm ist es möglich zu studieren, was notwendig war, um in der neueren Zeit sich durchzuarbeiten zum inneren Erleben des Geistes. Dazu ist nämlich notwendig gewesen, wovon gerade ein so klassisch gebildeter Mensch wie Herman Grimm keine Ahnung hatte: naturwissenschaftliches Streben, naturwissenschaftliche Denkweise. Warum? Die naturwissenschaftliche Denkweise ist geistlos. Die naturwissenschaftliche Denkweise enthält gerade, wenn sie groß ist, nicht ein Stückchen Geist, gar nichts Geistiges. Alle naturwissenschaftlichen Begriffe, alle Begriffe von Naturgesetzen sind geistlos, weil sie nur Schattenbilder vom Geiste sind, weil im Bewußtsein, wenn man etwas weiß von Naturgesetzen, nichts vom Geist anwesend ist. 

Man kann dann zwei Wege gehen. 

Man kann sich der Naturwissenschaft hingeben, wie viele sich ihr heute hingeben, kann stehenbleiben bei dem, was die Naturwissenschaft gibt; dann wird man geistlos. Man kann gerade dadurch ein großer Naturforscher sein, aber man muss geistlos sein. Das ist der eine Weg. 

Der andere Weg ist der, dass man die Geistlosigkeit der Naturwissenschaft gerade da, wo sie in ihrer Größe aufgetreten ist, innerlich tragisch erlebt, dass man mit seiner Seele untertaucht in das Naturwissen. 

Wenn man mit seiner Seele untertaucht in dasjenige, was an abstrakten Naturgesetzen, die sehr interessant sind und in manches hineinleuchten, gefunden wurde, die aber geistlos sind, wenn man untertaucht in die Naturgesetze der Chemie, der Physik, der Biologie, die am Seziertisch gewonnen werden und schon dadurch andeuten, wie sie von dem Lebendigen nur das Tote geben, wenn man versucht, mit dem nicht nur in menschlichem Hochmut als einer Erkenntnis zu leben, sondern wenn man versucht zu fragen: Was gibt das der menschlichen Seele? – dann ist es erlebt! Das gibt nichts von Geistlosigkeit. Das ist ja auch das tragische Problem Nietzsche, der gerade an dem Empfinden der Geistlosigkeit der modernen naturwissenschaftlichen Bildung in seinem Seelenleben zerklüftet und zerrissen wird. 

Und dann kann die Reaktion eintreten im Inneren der Seele. 

Dann kann man erleben, wie im Anschauen der Natur der Geist ganz stumm, ganz schweigsam bleibt, nichts sagt. Die Seele bäumt sich auf, nimmt ihre Kraft zusammen, sucht dann aus dem Inneren heraus den Geist zu gebären. Das kann nur in dem Zeitalter geschehen, in dem die unmittelbare Naturanlage bei solchen Menschen wie denen der mitteleuropäischen bürgerlichen Bildung nicht vorhanden sind, und an die herantritt naturwissenschaftliche Kultur. Dann, wenn sie nicht innerlich tot sind, wenn sie innerlich lebendig sind, dann rafft sich in ihrem Inneren der Impuls des Geistes selbst auf. 

An dem Toten muss seit der Mitte des 15. Jahrhunderts der Geist geboren werden, wenn der Geist in das menschliche Seelenleben überhaupt hereintreten soll. 

Daher werden diejenigen, die nur mit der klassischen Bildung jenen Nachduft des Griechischen ausleben, der das Seelenhafte des Geisjes durch des Menschen eigene Seele durchpulsieren läßt, noch befriedigt sein können in dem inneren Erleben, das ihnen gibt die Empfindung dieses griechischen Seelen-Geistes, dieser griechischen Geistes-Seele. Diejenigen aber, die genötigt sind, mit der Naturwissenschaft innerlich lebendig Ernst zu machen und ihren Tod, ihr Leichnamhaftes zu empfinden, die werden dann den Geist in ihrer Seele erstehen lassen. 

Man muss schon, um in der neueren Zeit ein wirkliches unmittelbares Erlebnis vom Geist zu haben, nicht nur in Laboratorien gewesen sein und dort Zyansäure oder Ammoniak gerochen oder im Seziersaal gewesen sein und die frischen Präparate der Leichen angeschaut haben, man muss aus der ganzen naturwissenschaftlichen Richtung heraus den Leichenduft verspürt haben, um aus dieser Empfindung heraus zu dem Licht des Geistes zu kommen. Das ist ein Impuls, der in neuerer Zeit aufleben muss. Das ist eine der Prüfungen, die die Menschen durchmachen müssen in der neueren Zeit. 

Die Naturwissenschaft ist viel mehr dazu da, die Menschen zu erziehen, als Wahrheiten über die Natur zu vermitteln. 

Nur der naive Mensch kann glauben, dass in irgendeinem Naturgesetz, das die gelehrten Naturwissenschafter verzeichnen, eine innerliche Wahrheit ist. Nein, die ist nicht drinnen; aber zur Erziehung der Menschen zum Geiste ist gerade die geistlose Naturwissenschaft da. Das ist eine von jenen Paradoxien der weltgeschichtlichen Entwickelung der Menschheit. 

So leuchtete erst in der neuesten Zeit – in der Zeit, die den Goetheanismus ablöste, denn da kam erst die eigentliche Leichenhaftigkeit, das eigentliche Tote der Naturwissenschaft herauf — der Geist, allerdings nur für diejenigen Menschen, die sein Licht empfangen wollten. Und so schützten sich die Menschen bis zur Goethe-Zeit und noch Goethe selber gegen das Verheerende eines in den Staatszwang hineingefesselten Geisteslebens dadurch, dass sie im Grunde genommen das griechische Geistesleben verarbeiten, das ja dem modernen Staate nicht angehörte, weil es überhaupt der modernen Zeit nicht angehörte. Die Abtrennung des Geisteslebens von dem Staatsleben wurde surrogativ dadurch besorgt, dass man ein fremdes Geistesleben, das griechische, in sich aufnahm. Dieses griechische Geistesleben, das war es eben, welches die innere Geistleerheit der neueren europäischen Welt überhaupt zudeckt. Das war auf der einen Seite. 

Auf dieses Zitat wurde zum ersten Mal von diesem Artikel aus verwiesen:

Die Schmerzmittel von „Big Pharma“ und die (geistige) Obstipation

 

Hat Ihnen dieser Artikel etwas gegeben? Dann geben Sie doch etwas zurück! – Unterstützen Sie das Umkreis-Institut durch eine

Spende!

Das geht sehr einfach über einen Bankeinzug oder über PayPal.


Rudolf Steiner zur Geburt des Geistes aus dem Schmerz des Erlebens einer geistlosen und toten Naturwissenschaft heraus wurde am 08.03.2016 unter Zum Zeitgeschehen veröffentlicht.

Schlagworte: