Rudolf Steiner: „Denn der Zeitpunkt, wo man das, was in den «Kernpunkten der sozialen Frage» steht, realisieren sollte, der ist vorüber für Mitteleuropa.“

 

Aus Nr. 305 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite 204

In Mitteleuropa und in dem repräsentativen Lande Mitteleuropas, in Deutschland, war das nicht der Fall. Deutschland war noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen ein Agrarland, ein Land, in dem die Landwirtschaft weitaus dominiert hat. Und dasjenige, was da war als die moderne Industrie, diese moderne industrielle Strömung, die sich als dritte neben die beiden anderen hingestellt hat, das war ein staatliches Gefüge, ein Gefüge, das sich staatlich immer mehr und mehr konsolidierte, und das daher die Tendenz entwickelte, den Industrialismus in das Staatsgebilde hineinzugliedern, zu absorbieren. 

Vergleichen Sie nur einmal wirklichkeitsgemäß Mitteleuropa, wie es vor dem Kriege war, mit Westeuropa vor dem Kriege. In Westeuropa hat sich das wirtschaftliche, das ökonomische Wesen in einer gewissen Emanzipation vom Staate erhalten, und das geistige Wesen erst recht. Das steht in einer gewissen Selbständigkeit den anderen beiden Gliedern gegenüber. 

In Mitteleuropa entstand eine kompakte Masse aus Geistesleben, juristischem Staats- und Verfassungsleben und Wirtschaftsleben. In Deutschland musste man daher daran denken, wie man die drei Glieder auseinanderbringt, um sie dann organisch zum Zusammenwirken zu bringen, wie sie sich nebeneinander zu stellen haben, um sie nebeneinander zur Wirksamkeit zu bringen, um die Bänder zwischen ihnen zusammenzubringen. 

Hier im Westen (Rudolf Steiner hält diesen Vortrag im Jahr 1922 in Oxford in England, also in einem Land, dass er durchaus zum Westen zählte; Anmerkung IH) handelt es sich darum, dass die drei Glieder nebeneinander daliegen, dass sie deutlich voneinander gesondert sind, dass man selbst räumlich das geistige Leben so zusammengefasst findet wie hier in Oxford, wo man das Gefühl hat, als ob es draußen überhaupt keine Staats- und keine wirtschaftliche Welt mehr gäbe, als ob alles Geistige souverän und autonom dastünde. Aber man hat auch das Gefühl, dasjenige, was in diesem souveränen Geistesleben sich entwickelt, das hat nicht mehr die Kraft, hinauszuwirken in die beiden anderen Glieder. Das ist etwas, was nur in sich selber lebt, was nicht organisch eingewebt ist in die beiden anderen Glieder. 

In Deutschland hat man das Gefühl: Das geistige Leben steckt so drinnen im staatlichen Leben, dass man ihm erst auf die Beine helfen muss, dass es selbständig stehen kann. Hier hat man das Gefühl, das geistige Leben steht so selbständig da, dass es sich überhaupt nicht irgendwie kümmert um die anderen Glieder. Das gibt eine wesentlich andere Färbung, wenn man wirklichkeitsgemäß denkt gegenüber der ganzen sozialen Frage der Gegenwart und dem Grundimpuls der sozialen Frage in unseren Tagen. 

Aus diesem Grunde meine ich, dass meine «Kernpunkte der sozialen Frage», wenn sie heute in Deutschland fast vergessen sind – es ist ja ein bisschen übertrieben, aber es ist fast so -, wenn sie heute in Deutschland fast vergessen sind, und im Jahre 1919 eine ungeheuer schnelle Verbreitung gefunden haben, dass das ganz natürlich ist. Denn der Zeitpunkt, wo man das, was in den «Kernpunkten der sozialen Frage» steht, realisieren sollte, der ist vorüber für Mitteleuropa. Der ist in dem Augenblicke vorüber gewesen, als jener starke Valutaniedergang eingetreten ist, der der deutschen Wirtschaft völlig die Hände bindet. 

Ich bin damals, als die «Kernpunkte der sozialen Frage» erschienen waren, von vielen Leuten gefragt worden: Ja, das wäre alles recht schön, aber jetzt handelt es sich vor allen Dingen darum, wie wir die Valuta verbessern. Sie war dazumal verhältnismäßig noch gut gegen den heutigen schändlichen Stand. Ich konnte nur sagen: Da drinnen in den «Kernpunkten» steht es, wie man die Valuta verbessern kann. – Aber die Leute sahen es nicht. Sie wussten nicht, wo die Antwort sitzt auf die Frage, sondern sie suchten die Antwort extra irgendwie an der Oberfläche behandelt, nicht in den Tiefen. Dass gerade das Buch die Antwort war, das verstanden die Leute nicht. 

Nun, das ist einer der Grundimpulse im sozialen Leben unserer Zeit. Wenn man versucht, aus der Wirklichkeit heraus zu denken, den Menschen Antworten zu geben aus der Wirklichkeit heraus, so verstehen sie sie nicht, denn sie kommen mit Theorien, mit einem Kopf, der ganz gespickt ist mit «Kapital» und «Mehrwert»» und «Klassenkampf» und allem möglichen, und mit allen alten Vorurteilen. Sie kommen mit demjenigen, was alte Denkgewohnheiten sind. Und heute schlagen gerade im praktischen Leben die Theorien die Wirklichkeit tot. Das ist das eigentümliche Rätsel unserer Zeit, dass die Praktiker alle Theoretiker geworden sind, dass sie alle Ideen im Kopfe haben, die sie gerade, meinetwillen, aus einer Fabrik heraus zusammengeschmiedet haben, und mit diesen theoretischen Ideen das ganze soziale Leben meistern wollen. 

Deshalb glaube ich, dass in der Zukunft meine «Kernpunkte» mehr gelesen werden sollten im Westen und in Russland, dass sie in Deutschland heute eigentlich ohne eine Möglichkeit des Wirkens dastehen. Denn im Westen zum Beispiel kann man trotzdem an diesem Buche sehr viel sehen, denn es stellt ohne Utopie einmal hin, wie die drei Glieder eben nebeneinanderstehen und ineinandergreifen sollten. Da ist es für den Westen ganz gleichgültig in bezug auf den Zeitpunkt, denn auch da ist noch viel zu tun in Bezug auf die richtige Gliederung der drei Strömungen, Geistesleben, Wirtschaftsleben, staatlich-rechtliches Leben.  

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Rudolf Steiner: „Denn der Zeitpunkt, wo man das, was in den «Kernpunkten der sozialen Frage» steht, realisieren sollte, der ist vorüber für Mitteleuropa.“ wurde am 19.06.2017 unter Hide veröffentlicht.

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