Rudolf Steiner: Aus seinem Buch „Goethes Weltanschaung“
von Rudolf Steiner
Der folgende Auszug aus Rudolf Steiners Buch „Goethes Weltanschauung“ (aus Nr. 6 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite: 83ff) vermittelt einen kleinen Eindruck von deren Komplexität und Zielsetzung – unter anderem leistete Goethe mit seinem Wissenschafts-Impuls einen bedeutenden, wenn auch nicht hinreichenden Beitrag zur großen Frage einer menschlichen Freiheit. Es werden aber auch die Schwierigkeiten ersichtlich, in denen sich Goethe, trotz seiner genialen Veranlagung – auch bedingt durch die Zeit – auf diesem Erkenntniswege sich befand. Die Freiheitsfrage wurde dann von Rudolf Steiner in seiner „Philosophie der Freiheit“ (GA 4) gelöst.
Rudolf Steiner (Hervorhebungen IH): Goethe macht einmal die Bemerkung: «Wer sie [meine Schriften] und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, dass er eine gewisse innere Freiheit gewonnen.» (Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller, 5. Jan. 1831.) Damit hat er auf die wirkende Kraft hingedeutet, die sich in allem menschlichen Erkenntnisstreben geltend macht. Solange der Mensch dabei stehen bleibt, die Gegenstände um sich her wahrzunehmen und ihre Gesetze als ihnen eingepflanzte Prinzipien zu betrachten, von denen sie beherrscht werden, hat er das Gefühl, dass sie ihm als unbekannte Mächte gegenüberstehen, die auf ihn wirken und ihm die Gedanken ihrer Gesetze aufdrängen. Er fühlt sich den Dingen gegenüber unfrei; er empfindet die Gesetzmäßigkeit der Natur als starre Notwendigkeit, der er sich zu fügen hat. Erst wenn der Mensch gewahr wird, dass die Naturkräfte nichts anderes sind als Formen desselben Geistes, der auch in ihm selbst wirkt, geht ihm die Einsicht auf, dass er der Freiheit teilhaftig ist. Die Naturgesetzlichkeit wird nur so lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde Gewalt ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern betätigt; man empfindet sich als produktiv mitwirkendes Element beim Werden und Wesen der Dinge. Man ist Du und Du mit aller Werdekraft. Man hat in sein eigenes Tun das aufgenommen, was man sonst nur als äußeren Antrieb empfindet. Dies ist der Befreiungs-Prozeß, den im Sinne der Goetheschen Weltanschauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die Ideen des Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den italienischen Kunstwerken entgegenblickten. Eine klare Empfindung hatte er auch von der befreienden Wirkung, die das Innehaben dieser Ideen auf den Menschen ausübt. Eine Folge dieser Empfindung ist seine Schilderung derjenigen Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister bezeichnet. «Die Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Grade produktiv; indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sich in diese Idee zu fügen.» Zu der unmittelbaren Anschauung des Befreiungsaktes hat es aber Goethe nie gebracht. Diese Anschauung kann nur derjenige haben, der sich selbst in seinem Erkennen belauscht. Goethe hat zwar die höchste Erkenntnisart ausgeübt; aber er hat diese Erkenntnisart nicht an sich beobachtet. Gesteht er doch selbst:
«Wie hast du’s denn so weit gebracht?
Sie sagen, du habest es gut vollbracht!»
Mein Kind! ich hab‘ es klug gemacht,
Ich habe nie über das Denken gedacht.
Aber so wie die schöpferischen Naturkräfte «nach tausendfältigen Pflanzen» noch eine machen, worin «alle übrigen enthalten» sind, so bringen sie auch nach tausendfältigen Ideen noch eine hervor, worin die ganze Ideenwelt enthalten ist. Und diese Idee erfasst der Mensch, wenn er zu der Anschauung der andern Dinge und Vorgänge auch diejenige des Denkens fügt. Eben weil Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des Denkens. Den Unterschied zwischen Denken über das Denken und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht gemacht. Sonst wäre er zur Einsicht gelangt, dass man gerade im Sinne seiner Weltanschauung es wohl ablehnen könne, über das Denken (intellektualistisch und daher erst einmal unreal; Anmerkung IH) zu denken, dass man aber doch zu einer Anschauung der Gedankenwelt kommen könne. An dem Zustandekommen aller übrigen Anschauungen ist der Mensch unbeteiligt. In ihm leben die Ideen dieser Anschauungen auf. Diese Ideen würden aber nicht da sein, wenn in ihm nicht die produktive Kraft vorhanden wäre, sie zur Erscheinung zu bringen. Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen sind, was in den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie durch die menschliche Tätigkeit. Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozess restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der Ideenwelt. Der Mensch, der diese in sich selbst ruhende Tätigkeit anschaut, fühlt die Freiheit. Goethe hat diese Empfindung zwar erlebt, aber nicht in der höchsten Form ausgesprochen. Er übte in seiner Naturbetrachtung eine freie Tätigkeit; aber sie wurde ihm nie gegenständlich. Er hat nie hinter die Kulissen des menschlichen Erkennens geschaut und deshalb die Idee des Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner höchsten Metamorphose nie in sein Bewusstsein aufgenommen. Sobald der Mensch zur Anschauung dieser Metamorphose gelangt, bewegt er sich sicher im Reich der Dinge. Er hat in dem Mittelpunkte seiner Persönlichkeit den wahren Ausgangspunkt für alle Weltbetrachtung gewonnen. Er wird nicht mehr nach unbekannten Gründen, nach außer ihm liegenden Ursachen der Dinge forschen; er weiß, dass das höchste Erlebnis, dessen er fähig ist, in der Selbstbetrachtung der eigenen Wesenheit besteht. Wer ganz durchdrungen ist von den Gefühlen, die dieses Erlebnis hervorruft, der wird die wahrsten Verhältnisse zu den Dingen gewinnen. Bei wem das nicht der Fall ist, der wird die höchste Form des Daseins anderswo suchen, und, da er sie in der Erfahrung nicht finden kann, in einem unbekannten Gebiet der Wirklichkeit vermuten. Seine Betrachtung der Dinge wird etwas Unsicheres bekommen; er wird sich bei der Beantwortung der Fragen, die ihm die Natur stellt, fortwährend auf ein Unerforschliches berufen. Weil Goethe durch sein Leben in der Ideenwelt ein Gefühl hatte von dem festen Mittelpunkt, innerhalb der Persönlichkeit, ist es ihm gelungen, innerhalb bestimmter Grenzen im Naturbetrachten zu sicheren Begriffen zu kommen. Weil ihm aber die unmittelbare Anschauung des innersten Erlebnisses abging, tastet er außerhalb dieser Grenzen unsicher umher. Er redet aus diesem Grunde davon, dass der Mensch nicht geboren sei, «die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten». Er sagt: «Kant hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei, und dass er die unauflöslichen Probleme liegen ließ.» Hätte ihm die Anschauung des höchsten Erlebnisses Sicherheit in der Betrachtung der Dinge gegeben, so hätte er auf seinem Wege mehr gekonnt als «durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen». Statt geradewegs durch die Erfahrung durchzuschreiten in dem Bewusstsein, dass das Wahre nur eine Bedeutung hat, insoweit es von der menschlichen Natur gefordert wird, gelangt er doch zu der Überzeugung, dass «ein höherer Einfluss die Standhaften, die Tätigen, die Verständigen, die Geregelten und Regelnden, die Menschlichen, die Frommen » begünstige, und dass sich «die moralische Weltordnung» am schönsten da zeige, wo sie «dem Guten, dem wacker Leidenden mittelbar zu Hilfe kommt».
Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kannte, war es ihm unmöglich, zu den letzten Gedanken über die sittliche Weltordnung zu gelangen, die zu seiner Naturanschauung notwendig gehören. Die Ideen der Dinge sind der Inhalt des in den Dingen Wirksamen und Schaffenden. Die sittlichen Ideen erlebt der Mensch unmittelbar in der Ideenform. Wer zu erleben imstande ist, wie in der Anschauung der Ideenwelt das Ideelle sich selbst zum Inhalt wird, sich mit sich selbst erfüllt, der ist auch in der Lage, die Produktion des Sittlichen innerhalb der menschlichen Natur zu erleben. Wer die Naturideen nur in ihrem Verhältnis zu der Anschauungswelt kennt, der wird auch die sittlichen Begriffe auf etwas ihnen Äußeres beziehen wollen. Er wird eine ähnliche Wirklichkeit für diese Begriffe suchen, wie sie für die aus der Erfahrung gewonnenen Begriffe vorhanden ist. Wer aber Ideen in ihrer eigensten Wesenheit anzuschauen vermag, der wird bei den sittlichen gewahr, dass nichts Äußeres ihnen entspricht, dass sie unmittelbar im Geist-Erleben als Ideen produziert werden. Ihm ist klar, dass weder ein nur äußerlich wirkender göttlicher Wille, noch eine solche sittliche Weltordnung wirksam sind, um diese Ideen zu erzeugen. Denn es ist in ihnen nichts von einem Bezug auf solche Gewalten zu bemerken. Alles was sie aussprechen, ist in ihrer geistig erlebten reinen Ideenform auch eingeschlossen. Nur durch ihren eigenen Inhalt wirken sie auf den Menschen als sittliche Mächte. Kein kategorischer Imperativ steht mit der Peitsche hinter ihnen und drängt den Menschen, ihnen zu folgen. Der Mensch empfindet, dass er sie selbst hervorgebracht hat und liebt sie, wie man sein Kind liebt. Die Liebe ist das Motiv des Handelns. Die geistige Lust am eigenen Erzeugnis ist der Quell des Sittlichen.
Es gibt Menschen, die keine sittlichen Ideen zu produzieren vermögen. Sie nehmen diejenigen anderer Menschen durch Überlieferung in sich auf. Und wenn sie kein Anschauungsvermögen für Ideen als solche haben, erkennen sie den im Geiste erlebbaren Ursprung des Sittlichen nicht. Sie suchen ihn in einem übermenschlichen, ihnen äußerlichen Willen. Oder sie glauben, dass eine außerhalb der menschlich erlebten Geistwelt bestehende objektive sittliche Weltordnung bestehe, aus der die moralischen Ideen stammen. In dem Gewissen des Menschen wird oft das Sprachorgan dieser Weltordnung gesucht. Wie über gewisse Dinge seiner übrigen Weltanschauung ist Goethe auch in seinen Gedanken über den Ursprung des Sittlichen unsicher. Auch hier treibt sein Gefühl für das Ideengemäße Sätze hervor, die den Forderungen seiner Natur gemäß sind. «Pflicht: wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.» Nur wer die Gründe des Sittlichen rein in dem Inhalt der sittlichen Ideen sieht, sollte sagen: «Lessing, der mancherlei Beschränkung unwillig fühlte, lässt eine seiner Personen sagen: Niemand muss müssen. Ein geistreicher, frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der muss. Ein dritter, freilich ein Gebildeter, fügte hinzu: Wer einsieht, der will auch. Und so glaubte man den ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und Müssens abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntnis des Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Tun und Lassen; deswegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln zu sehen.»
Dass in Goethe ein Gefühl für die echte Natur des Sittlichen herrscht, welches sich nur nicht zur klaren Anschauung erhebt, zeigt folgender Ausspruch: Der Wille «muss, um vollkommen zu werden …, sich im Sittlichen dem Gewissen, das nicht irrt… fügen … Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, mit ihm ist alles gegeben; es hat nur mit der innern eigenen Welten tun.» Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, kann nur heißen: der Mensch findet in sich keinen sittlichen Inhalt ursprünglich vor; er gibt sich ihn selbst. Diesen Aussprüchen stehen andere gegenüber, die den Ursprung des Sittlichen in ein Gebiet außerhalb des Menschen verlegen: «Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick forschend und sehnend zum Himmel auf… weil er es tief und klar in sich fühlt, dass er ein Bürger jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen, noch aufzugeben vermögen.» «Was gar nicht aufzulösen ist, überlassen wir Gott als dem allbedingenden und allbefreienden Wesen.»
Für die Betrachtung der innersten Menschennatur, für die Selbstbeschauung fehlt Goethe das Organ. «Hierbei bekenn‘ ich, dass mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.» Davon ist gerade das Umgekehrte wahr: der Mensch kennt die Welt nur, insofern er sich kennt. Denn in seinem Innern offenbart sich in ureigenster Gestalt, was in den Außendingen nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol als Anschauung vorhanden ist. Wovon der Mensch sonst nur als von einem Unergründlichen, Unerforschlichen, Göttlichen sprechen kann: das tritt ihm in der Selbstanschauung in wahrer Gestalt vor Augen. Weil er in der Selbstanschauung das Ideelle in unmittelbarer Gestalt sieht, gewinnt er die Kraft und Fähigkeit, dieses Ideelle auch in aller äußeren Erscheinung, in der ganzen Natur aufzusuchen und anzuerkennen. Wer den Augenblick der Selbstanschauung erlebt hat, denkt nicht mehr daran, hinter den Erscheinungen einen «verborgenen» Gott zu suchen: er ergreift das Göttliche in seinen verschiedenen Metamorphosen in der Natur. Goethe bemerkte in Beziehung auf Schelling: «Ich würde ihn Öfters sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bei mir die Poesie, und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt treibt. Indem ich mich nie rein spekulativ erhalten kann, sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muss und deshalb gleich in die Natur hinaus fliehe.» Die höchste Anschauung, die Anschauung der Ideenwelt selbst, hat er eben nicht finden können. Sie kann die Poesie nicht zerstören, denn sie befreit den Geist nur von allen Vermutungen, dass in der Natur ein Unbekanntes, Unergründliches sein könne. Dafür aber macht sie ihn fähig, sich unbefangen ganz den Dingen hinzugeben; denn sie gibt ihm die Überzeugung, dass aus der Natur alles zu entnehmen ist, was der Geist von ihr nur wünschen kann.
Rudolf Steiner: Aus seinem Buch „Goethes Weltanschaung“ wurde am
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