Rudolf Steiner: Die zergliedernde Denkweise der Naturwissenschaft zerreißt die Persönlichkeiten

 

Aus Nr. 187 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 176:

Es gibt eben zwei Arten, sich Gedanken zu bilden. Die eine Art ist die zergliedernde, die unterscheidende, die gerade in der Naturwissenschaft heute eine so große Rolle spielt, wo man unterscheidet, sorgfältig unterscheidet. Sie finden das gerade in der Naturwissenschaft tonangebend. Alles, was in der Naturwissenschaft gesagt, geschrieben, getan wird, steht unter dem Einfluss der zergliedernden Denkweise, der unterscheidenden Denkweise. Man sucht stramme Definitionen. Und wenn einer heute etwas sagt, so nagelt man ihn an stramme Definitionen. Stramme Definitionen sind aber nichts weiter als Unterscheidungen der Sachen, die man definiert, von andern Sachen. Diese Denkweise ist eine Art von Maske, der sich insbesondere gern bedienen die Geister, die heute uns zerreißen möchten, die in diesem Kampfe drinnenstehen. Trivial könnte man sagen: Eine große Anzahl derjenigen Menschen, die die gegenwärtige Kriegskatastrophe (des ersten Weltkrieges; Anmerkung IH) herbeigeführt haben, und derjenigen, die noch drinnenstehen in dem, was die Folgen sind, sind eigentlich verrückt. Aber das ist, wie gesagt, nur etwas Triviales. Um was es sich da handelt, ist, dass man versteht, wodurch ihre Persönlichkeiten zerrissen werden. Von dieser Denkweise, zu der einen Zugang haben die verschiedenen, den Menschen auseinanderreißenden Mächte, muss man klar unterscheiden die andere, die in der Geisteswissenschaft allein angewendet wird. Sie ist eine ganz andere Vorstellungsart, eine ganz andere Denkweise. Sie ist, im Gegensatz zu der zergliedernden, eine gestaltende Denkweise. 

Sehen Sie genauer zu, verfolgen Sie, was ich versuche in den verschiedenen Büchern über Geisteswissenschaft auszuführen, so werden Sie sich sagen: Nicht so sehr liegt der Unterschied in dem, was mitgeteilt wird – das kann man so oder so beurteilen -, aber aufmerksam sollte man werden, dass die ganze Art der Eingliederung der ganzen Welt, die ganze Art der Vorstellungen eine andere ist. Diese ist gestaltend, sie gibt abgeschlossene Bildheiten, sie versucht Konturen und durch Konturen Farben zu geben. Das werden Sie durch die ganze Darstellung hindurch verfolgen können: sie hat nicht das Zergliedernde, welches die ganze heutige Wissenschaft hat. Dieser Unterschied des Wie muss hervorgehoben werden ebenso wie der Unterschied des Was. Also es gibt eine gestaltende Denkweise, die insbesondere ausgebildet wird und die den Zweck hat, in die übersinnlichen Welten hineinzuführen. Wenn Sie zum Beispiel das Buch nehmen «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», wo ein solcher Weg in die übersinnlichen Welten vorgezeichnet wird, so werden Sie finden, dass darin alles, was die Gedanken und Vorstellungen in Anspruch nimmt, auf gestaltendes Denken veranlagt ist. 

Das ist etwas, was für die Gegenwart notwendig ist. Denn das gestaltende Denken hat eine ganz bestimmte Eigenschaft. Wenn Sie zergliedernd denken, wenn Sie so denken, wie der heutige Naturforscher denkt, dann denken Sie ebenso wie gewisse Geister der ahrimanischen Welt, und daher können diese ahrimanischen Geister in Ihre Seele hereindringen. Wenn Sie aber das gestaltende Denken nehmen, das metamorphosierte Denken, ich könnte auch sagen das Goethesche Denken, wie es sich zum Beispiel darstellt in der Gestaltung unserer Säulen und Kapitäle (des ersten Goetheanum; Anmerkung IH) und so weiter, wenn Sie dieses gestaltende Denken nehmen, das auch in all den Büchern beachtet ist, die ich versuchte in die Geisteswissenschaft hineinzustellen, so ist dieses Denken eng an den Menschen gebunden. So gestaltend, wie der Mensch mit dem Denken in sich selber wirkt, vermögen es keine andern Wesen als diejenigen, die mit der normalen Menschheitsentwickelung zusammenhängen. Das ist das Eigentümliche. Dadurch können Sie nie auf falsche Wege kommen, wenn Sie sich durch die Geisteswissenschaft auf gestaltendes Denken einlassen. Da können Sie niemals sich verlieren an die verschiedenen geistigen Wesenheiten, die Einfluss gewinnen wollen auf Sie. Die gehen natürlich durchaus durch Ihre Wesenheit hindurch. Aber sobald Sie gestaltend denken, sobald Sie sich bemühen, nicht bloß zu spintisieren und zu unterscheiden, sondern so zu denken, wie es wirklich diese moderne Geisteswissenschaft will, so bleiben Sie in sich, so können Sie nicht das Gefühl der bloßen Ausgehöhltheit haben. Deshalb betont man, wenn man auf dem Standpunkt unserer Geisteswissenschaft steht, so häufig den Christus-Impuls, weil der Christus-Impuls in der geraden Linie des gestaltenden Denkens liegt. Die Evangelien kann man auch nicht verstehen, wenn man sie bloß zergliedert. Was dabei herauskommt, hat gerade die moderne protestantische Theologie gezeigt. 

Anmerkung: Siehe dazu auch hier auf Umkreis-Online.

Die zergliedert, aber es ist ihr auch alles entfallen, und es ist gar nichts mehr geblieben. Diejenigen Zyklen, die von den Evangelien handeln, die verfolgen den entgegengesetzten Weg. Sie bauen etwas auf, was gestaltet wird, um durch diese neuen Gestaltungen zum Verstehen der alten Evangelien vorzurücken. Es braucht heute tatsächlich – das ist gar nicht übertrieben – jemand nichts anderes, als sich an die Vorstellungsart, an die Denkweise dieser Geisteswissenschaft zu halten, dann können ihm diejenigen dämonischen Wesenheiten, die als Begleiterscheinungen der Geister der Persönlichkeit hereinrollen mit der neuen Welle, nichts anhaben. Daher sehen Sie, was es eigentlich für ein großer Schaden für die Menschheit ist, wenn sie sich sträubt, geisteswissenschaftlich zu denken. 

Ich sagte vorhin: Es lässt sich diese Welle nicht aufhalten, wenn die Menschen sie auch abweisen, sie flutet herein, auch wenn die Menschen sich gegen sie sträuben, wenn sie sie nicht auffassen wollen. Dann kommt dasjenige heraus, was im Grunde zur Katastrophe der Gegenwart im tieferen Sinne geführt hat: das Nichtanerkennen der geistigen Welt. Das ist doch die tiefere Ursache für die heutigen katastrophalen Ereignisse, namentlich auch für die heutigen katastrophalen Seelenverfassungen. Und da es ein Kampf ist, der unten ja waltet, so gibt es kein anderes Mittel, als durch das gestaltende Denken die menschliche Persönlichkeit in sich selber plastisch auszubilden und dadurch den Kampf in der Seele zu erleben. Sonst wird der Kampf in der Außenwelt sich bleibend abspielen. Deshalb muss man schon sagen: Es ist wahrhaftig nicht richtig, wenn die Menschen sich nicht hinneigen wollen zu diesem geistigen Untergrunde der gegenwärtigen katastrophalen Weltlage. Denn Sie bemerken: Es liegt etwas außerordentlich Neues in dem, was hier gesagt worden ist; es ist ein Rechnen mit einer neuen Welle, die hereinspielt, und die durch eine ganz besondere Vorstellungsweise an den Menschen herangebracht werden soll, der in der Gegenwart lebt. Wenn man sich Gedanken, die nach dem Muster der Naturwissenschaft sind, hingibt, kann man einfach nicht der heutigen Zeit gewachsen sein. Wenn man bloß dasjenige ordnen will, was hier in der physischen Welt ist, wenn man bloß über das nachdenkt, was hier in der physischen Welt ist und nichts anderes gelten lassen will, dann zerstört man nur. Und man soll sich dann nicht wundern, wenn der Kampf, dessen man nicht Meister werden will im Geistigen, in das physische Leben hereinspielt, denn er schlägt ja herein in die Menschen. Und wenn sie ihn nicht in der Seele ausfechten wollen, so führt er den einen gegen den andern, Völker gegen Völker, Menschen gegen Menschen. Was hier in der physischen Welt geschieht, kann nur ein Abbild sein der geistigen Welt: Entweder der Mensch nimmt den Kampf so, dass er ihn in seiner Seele ausficht, das heißt, die Menschen vertiefen sich geistig, oder aber dieser Kampf, der durch das Bewusstsein wie durch ein Sieb hindurchgeht, wenn man bloß so denken will, wie die Gegenwart denkt, entlädt sich, indem er den Menschen, die menschliche Seele ausschaltet in der äußeren Welt, und verursacht alles das, was Sie eben jetzt sehen. Sie werden, wenn Sie so etwas bedenken, einsehen, dass es wirklich der heutigen Menschheit obliegt, sich zum Geiste hinzuwenden, dass dies notwendig vorgezeichnet wird von den Weltereignissen. 

 

 

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Rudolf Steiner: Die zergliedernde Denkweise der Naturwissenschaft zerreißt die Persönlichkeiten wurde am 10.05.2019 unter Hide veröffentlicht.

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