Rudolf Steiner: Wie bekommt man in das Wissen, in die Ideenwelt das Sein, die Wirklichkeit herein?

 

(GA 156 S. 150) 

Es ist eine uralte Frage, wie der Mensch dasjenige, was in der Welt draußen wirklich ist, hereinbekommen kann in sein Wissen, in seine Ideenwelt. Für uns ist die Frage nicht so brennend, als sie für die außerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Strömung stehenden Menschen sein muß, weil wir ja wissen, daß die Möglichkeit besteht, sich hinaufzuleben in die geistigen Welten und durch das Eindringen in die geistigen Welten Sicherheit zu gewinnen über ein wahres Sein, über eine wahre Wirklichkeit hinter der äußeren Wirklichkeit, die uns auf dem physischen Plane vorliegt. Allein, die allgemeine Menschheit wird sich erst von der Gegenwart an in die Zukunft hinein zu einem solchen Gesichtspunkte des gleichsam außerleiblichen Erkennens aufschwingen können, und es wird noch lange die Frage eine unendlich große Bedeutung haben, wie man in das Wissen, in die Ideenwelt das Sein, die Wirklichkeit hereinbekommen kann. 

Für uns ist es wichtig, über diese Frage etwas Bescheid zu wissen, weil wir versuchen müssen, eine Verständigung anzubahnen mit denjenigen, die noch etwas außerhalb oder auch stark außerhalb unserer geistigen Bewegung stehen. Wir müssen Auskunft geben können über die Rätsel und Fragen, welche die noch nicht dieser geistigen Bewegung Nähergetretenen empfinden, wenn sie das eine oder das andere von den Ergebnissen der Geistesforschung hören. Die Frage, die ich meine, ist geradezu die tiefste, die tragischste Frage, die sich die Menschheit bisher gestellt hat. Denn so viel auch philosophische und andere wissenschaftliche Untersuchungen gepflogen worden sind, zuletzt geht doch die Frage, die ich angedeutet habe, aus einer Gemütsverfassung des Menschen hervor und wirkt auf die ganze Gemütsverfassung und die Gemütsstimmung des Menschen wieder zurück. 

Der Mensch – fassen wir die Sache einmal von diesem Gesichtspunkte an – wacht des Morgens auf aus einer Welt heraus, die ihm unbekannt und rätselhaft bleiben muß, wenn er nicht in die Geisteswissenschaft eindringt, und er macht sich über die Welt, in die er eintritt mit dem Aufwachen, seine Gedanken. In diesen Gedanken will er sich dann dasjenige verschaffen, was man eine Weltanschauung nennen kann. Da empfindet der Mensch, der wirklich mit seiner ganzen Seele empfindend an diese Dinge herantritt, etwas von Schwäche des Gedankenlebens, des Vorstellungslebens. Er empfindet, man könnte sagen, dieses: daß er ja in seinem Inneren dazu verurteilt ist, in Vorstellungen über das Wesen der Vorgänge der Außenwelt zu leben, sich solche Vorstellungen zu machen; und er findet wiederum, daß diese Vorstellungen gewissermaßen doch nur Vorstellungen sind, daß sie nicht stark genug sind, das wirkliche Sein in sich hinein aufzunehmen. 

Besonders dann empfindet der Mensch diese Schwäche des Vorstellungslebens, wenn er sich besinnt auf die Erinnerungsvorstellungen. Aus vergangenen Lebensepochen holen wir herauf, was wir an Tatsachen, an Erlebnissen durchgemacht haben. Wir holen es herauf, indem wir es uns hinterher, vielleicht nach langer Zeit, vorstellen. Wir müssen uns dabei immer wieder und wieder sagen: Ja, wir haben das Erlebnis nur in der Vorstellung, und die Vorstellung hat nicht die Macht, die Wirklichkeit neu heraufzuzaubern. 

Das ist das eine, wo wir so recht fühlen, wie ohnmächtig der Mensch gewissermaßen gegenüber der vollsaftigen, vollinhaltlichen Wirklichkeit mit seinem Vorstellungsleben ist. Das andere ist, wenn wir eintreten in die Welt der schaffenden Phantasie. Wir können in dieser Welt der schaffenden Phantasie uns vor die Seele rufen Gebilde des Schönen, Gebilde des Befriedigenden, und wir können fühlen, wie wir nicht imstande sind, mit dem, was wir da in unserer Phantasie gewissermaßen uns vorzaubern, irgendwie hineinzudringen in das wirkliche Sein. Von den Empfindungen, die man gegenüber dieser Welt von Phantasiebildern haben kann, gehen ja die mehr materialistisch gesinnten Menschen aus. Sie sagen: Wenn ihr euch Vorstellungen macht über eine höhere geistige Welt, über Gott und die Geisteswelt, was verbürgt euch denn, daß diese Vorstellungen, die ihr euch da macht, etwas anderes sind als Gebilde der Phantasie? Was verbürgt euch denn, daß ihr mit diesen Vorstellungen, wenn sie euch auch eine noch so tiefe Beseligung verschaffen, eindringt in eine Welt echter Wirklichkeit? Was den Empfindungen zugrunde liegt gegenüber dieser Ohnmacht des Vorstellens, des Ideenbildens, das hat geführt zu dem, man kann sagen, jahrtausendealten philosophischen Ringen in bezug auf die Frage: Wie kann der Mensch mit seinen Begriffen, seinen Vorstellungen, in eine Wirklichkeit hineindringen?
Es wird genügend philosophische Richtungen geben, selbst wenn wir von dem äußersten Skeptizismus absehen, welche des Glaubens sind, daß eine befriedigende Antwort auf diese Frage, eine befriedigende Lösung dieses Rätsels des menschlichen Gemütslebens bis heute nicht gefunden ist. Gewiß, die Menschen können vorbeigehen in einer gewissen Gedankenbequemlichkeit an diesen Weltenrätseln, an diesen Fragen. Aber auch wer mit seinem Bewußtsein vorbeigeht und so daraufhin lebt, wird dennoch fühlen, daß dieses Unbefriedigtsein über die Welträtsel in seinem Astralleibe Wellen schlägt und gewisse Stimmungen gegenüber der Welt hervorruft, melancholische Stimmungen; Stimmungen, über die man sich vielleicht durch Zynismus hinweg hilft, können sich einstellen. Zu wirklicher Befriedigung im innern Seelenleben, zur Harmonie der Seele kann aber ein solches Vorbeigehen an den Welträtseln gewiß nicht führen. 

Für uns liegt die Notwendigkeit vor, uns diesen Weltenrätseln auch so zu nähern, wie wir uns gar vielem nähern müssen; es liegt für uns die Notwendigkeit vor, einmal in das Wesen der menschlichen Natur hineinzuschauen und zu fragen, woher dieses Rätsel kommt, warum es vorhanden ist. Daß es unendlich tragisch empfunden werden kann, haben gewisse Philosophen gezeigt, die geradezu verzweifelt sind an der Lösung dieser Rätsel, und die von einer Gottheit gesprochen haben, welche die Menschheit gleichsam irreführe in dem Chaos der Welterscheinungen und die menschliche Natur so angelegt habe, daß sie zu einer befriedigenden Weltauffassung nicht kommen könne. 

Nun erinnern wir uns an etwas, was öfter besprochen worden ist in diesem oder jenem Zusammenhange, was uns aber gerade gegenüber diesen Welträtseln nützlich sein kann. Es ist oft davon gesprochen worden, was unser Gedanken-, Sinnes- und Vorstellungsleben eigentlich ist. Ich habe gesagt, es ist im Grunde genommen eine Art Spiegelung. Es ist in der Tat so – ich habe das hier einmal besonders deutlich auseinandergesetzt -, daß wir es beim Menschen zu tun haben mit dem, was ich schematisch hier etwa so andeuten will: 

Dies ist der physische Leib. Außerhalb dieses physischen Menschen lebt gleichsam in dem unendlichen Weltenall ergossen dasjenige, was das eigentlich seelisch-geistige Wesen des Menschen ist, und im wachen Tagesleben erstreckt sich dieses geistig-seelische Wesen in das leiblich-seelische Wesen hinein. Dadurch entsteht eine Spiegelung, und diese Spiegelung ist eigentlich das, was wir als den Inhalt unseres wachen Tageslebens empfinden. Wirklich, unser Leib ist wie ein Spiegel, und wie wir den Spiegel nicht sehen, sondern das, was sich im Spiegel abspiegelt, so sehen wir, wenn der Mensch wach ist, im Grunde genommen nicht das, was im Leibe vorgeht, sondern wir sehen das Spiegelbild, das, was sich in ihm von der äußeren physischen Welt spiegelt. 

Aber insofern wir im wachen Tagesbewußtsein darinnen sind, ist ja im Grunde genommen auch unser Ich, das, was wir als seelisches Wesen sind, in dieser Welt der Spiegelbilder. Denn die Welt ringsherum ist Maja, sie ist eine Summe von Spiegelbildern. Es ist unser wachendes Ich in dieser Summe von Spiegelbildern darinnen, und wir sind im Grunde genommen als Wesen auf dem physischen Plane auch nichts anderes als ein Spiegelbild unter Spiegelbildern. 

Machen wir uns das nur einmal klar. Was bleibt denn, insofern wir auf dem physischen Plane sind, von unserem ganzen Vorstellungsleben, wenn wir das Tagesbewußtsein auslöschen ? Dann löscht sich das Ich mit aus. Wenn es sich nicht spiegelt, wie es im tiefen traumlosen Schlafe der Fall ist, dann ist auch das Ich ausgelöscht. Und wenn wir aufwachen und die Welt der Spiegelbilder vor uns haben, so ist in dieser Spiegelbilderwelt auch unser Ich darinnen; so daß wir, insofern wir auf dem physischen Plane leben, auch von uns selber nichts anderes haben können als ein Spiegelbild. 

Wir gehen durch die Welt als Wesen des physischen Planes und haben niemals von uns etwas anderes als ein Spiegelbild. Wir leben in der Welt; aber insofern wir uns bewußt sind, haben wir nicht die lebendige Tatsächlichkeit, sondern die Abspiegelung dieser lebendigen Tatsächlichkeit vor uns. Wir leben als Spiegelbild unter Spiegelbildern; und das, was wir so erkennen lernen durch die Geisteswissenschaft – daß wir als Spiegelbild unter Spiegelbildern leben, als Maja unter den Bestandteilen der großen Maja -, das empfindet der Mensch, wenn er die Ohnmacht alles seelischen Erlebens gegenüber der vollsaftigen Wirklichkeit empfindet. Der Mensch sagt sich im gewöhnlichen Leben nicht: Ich bin ein Spiegelbild unter Spiegelbildern -, aber er empfindet es, und er empfindet es eben dann so recht, wenn er fühlt: Wie kann ich mit diesem Spiegelbild das reale vollsaftige Sein erreichen? 

Machen wir uns einmal klar, was da vorliegt. Denken Sie sich, Sie haben vor sich eine spiegelnde Wand; sie spiegelt das wider, was im Räume ausgebreitet ist, zum Beispiel einen Tisch. Sie sehen aber nicht den Tisch, sondern Sie sehen das Spiegelbild. Denken Sie sich, sie wollten in das Spiegelbild hineingehen, den Tisch herausnehmen und etwas daraufstellen. Das würden Sie nicht können, denn auf den gespiegelten Tisch können Sie keine Teller und keine Suppenschüssei stellen. So unmöglich es ist, auf den gespiegelten Tisch Teller und Suppenschüsseln zu stellen, so unmöglich ist es, aus dem, was der Mensch auf dem physischen Plan erlebt und um sich hat zwischen Geburt und Tod im Wachzustande, das Wesen der Unsterblichkeit der Seele abzuleiten. Denn unsterblich ist die wirkliche Seele, nicht ihr Spiegelbild, das wir auf dem physischen Plan erleben. Bedenken Sie das nur ganz klar. 

Der Mensch ersehnt, das zu erkennen, was sich ihm fortwährend verbirgt und was, indem er auf dem physischen Plane lebt, ihm nur fortwährend ein Spiegelbild vorzeigt. Die Philosophien aller Zeiten haben sich bemüht, aus den Spiegelbildern die Wirklichkeit abzuleiten, aus den Spiegelbildern die Unsterblichkeit zu beweisen. Sie haben sich der Aufgabe unterzogen, symbolisch gesprochen, aus dem Spiegelbild den Tisch herauszuholen, ihn ins Zimmer zu stellen und Teller und Schüsseln daraufzustellen. 

Wenn man die Philosophien durchgeht, die nicht befruchtet sind von der Geisteswissenschaft, so erscheinen sie einem wie ein solches vergebliches Bemühen. Im Grunde genommen, wenn Sie mein Buch «Die Rätsel der Philosophie» durchzunehmen versuchen, so werden Sie darin erzählt finden, wie seit dem Beginne des philosophischen Ringens der Menschheit die Philosophie gleichsam sich bemüht hat, aus dem Spiegel den Tisch heraus zu bekommen und Teller und Schüsseln daraufzustellen. Deshalb mußte jetzt, wo wir doch eine solche geisteswissenschaftliche Bewegung haben, dem Buche ein Schlußkapitel hinzugefügt werden, welches zeigt, daß das, was vorher da war, ergänzt werden muß durch die Geisteswissenschaft, die es nicht mit Spiegelbildern, sondern mit Realitäten zu tun hat. Nun könnten Sie sagen: Dann ist das Buch gewiß ein solches, das wir nicht zu lesen brauchen, denn wozu sollen wir uns mit dem vergeblichen Ringen der Menschheit befassen? Warum sollten wir überhaupt auf die Philosophie Rücksicht nehmen, da sie sich doch nur mit einem vergeblichen Mühen der Menschheit befaßt ? – Ja, so ist die Sache denn doch nicht, so ist sie wirklich nicht! Dasjenige, was wir treiben, indem wir uns in dieses von einem gewissen Gesichtspunkte allerdings vergebliche Ringen vertiefen, ist dennoch etwas unendlich Bedeutungsvolles, etwas, was durch nichts anderes ersetzt werden kann. Für die Erkenntnis der unsterblichen Seelennatur, für die Erkenntnis der geistigen Welt und auch des göttlichen Wesens wird die Philosophie gewiß immer unfruchtbar bleiben, aber sie wird nicht unfruchtbar bleiben für die Entfaltung gewisser menschlicher Kräfte, für die Heranentwickelung gewisser menschlicher Fähigkeiten. Gerade weil die Philosophie als solche sich nicht als tauglich erweist, die genannten Dinge zu erreichen, weil sie gewissermaßen stumpf bleibt gegenüber diesen Dingen, stärkt sie um so mehr die Kräfte der menschlichen Seele. Und wenn sie auch nicht Erkenntnisse überliefern kann, so bereitet sie doch – dadurch, daß sie konzentriertes Gedankenleben ist – die Seele vor, sich geeignet zu machen, um in die geistige Welt hinaufzudringen. Was wir durch die Erarbeitung der Philosophie gewinnen, das hebt uns in die geistige Welt hinein, mehr als irgend etwas anderes. Gerade weil keine Kräfte zur Erwerbung von realen Erkenntnissen verloren gehen, deshalb werden alle Kräfte angewendet für die Erhöhung der menschlichen Fähigkeiten. Das aber müssen wir gerade aus dieser Betrachtung hinnehmen, daß das Erleben auf dem physischen Plane, weil es ein Erleben in Bildern ist, etwas Unreales, etwas Unwirkliches hat, und daß wir im Grunde genommen, indem wir uns in die philosophische Welt einleben, seelisch-geistig ein Unwirkliches durchleben. Aber hat es denn einen Sinn, hat es eine Bedeutung, daß wir Seelisch-Geistiges auf dem physischen Plane als ein Unwirkliches erleben? Können wir darin eine Weisheit der Weltenordnung finden? Eine solche Frage müssen wir uns stellen, und um diese Frage zu beantworten, müssen wir einige Erkenntnisse der Geisteswissenschaft uns vor die Seele rücken. 

  

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