Rudolf Steiner zu einer ungerechtfertigten Kapitalismuskritik


von Rudolf Steiner

 

Immer wieder muss man betonen: die Gedanken der Menschen sind heute stumpf und kurz geworden. Sie sind nicht in der Lage, einzudringen in die Wirklichkeiten. Sie bewegen sich in Illusionen, sie bewegen sich lediglich an der Oberfläche der Dinge. Man kann heute nicht einsehen, was gerade diese Zeit von denjenigen fordert, die ein Wort mitreden wollen bei der so notwendigen Neugestaltung der Dinge. Meine lieben Freunde, sagen wir uns das immer wieder und wieder: Wir haben durch die letzten vier Jahrhunderte als europäische Menschheit, mit ihrem amerikanischen Nachwuchs, ein Denken heraufgebracht, welches nur geeignet ist, das Leblose, das Tote zu begreifen. Wir haben ein Denken heraufgebracht, welches ganz und gar hingeordnet ist auf das Mathematisch-Technische. Wir sind unfähig geworden, Gedanken zu richten auf dasjenige, was in der Natur lebt. Wir begreifen nur das Tote. Dasjenige, was wir zu sagen wissen in unserer offiziellen Wissenschaft über den Organismus, das gilt bloß für den toten Organismus, das ist bloß an den Leichen gewonnen. Das aber wird heute, wo man sich in dieses Denken eingewöhnt hat, auch auf den sozialen Organismus angewendet. Das heißt aber nichts anderes, als: dass die Menschheit heute in weiten Kreisen unfähig ist, sich überhaupt Gedanken über den lebendigen sozialen Organismus zu machen. Höchstens finden die Menschen heute, dass diese Gedanken schwierig seien. Welche Gedanken finden die Menschen heute leicht? – Diejenigen, die ihnen durch den Katechismus meinetwillen seit Jahrhunderten eingepaukt worden sind, die in ihren ausgefahrenen Geleisen laufen, oder solche, welche die Kinder derjenigen Gedanken sind, die sich nur auf das Tote des lebendigen Organismus beziehen. Aber auf der anderen Seite ist es aber der Gegenwart nötig, den lebendigen sozialen Organismus zu begreifen. Gehen wir von einer konkreten Sache aus. Das sozialistische Denken der Gegenwart richtet sich in weitem Umfange – ich habe Ihnen das nach allen Seiten hin charakterisiert – gegen den Kapitalismus. Es fordert der Sozialismus die Vergesellschaftung des gesamten Privatkapitals an Produktionsmitteln. Über diese Sozialisierung wurde ja schon in reichlichem Maße in der, man nennt sie, glaube ich, «Nationalversammlung», in Weimar geredet. Die Art und Weise, wie heute über den Kapitalismus geredet wird, stammt so recht aus dem toten Denken der letzten Jahrhunderte, welches groß geworden ist innerhalb der rein naturwissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung. Was liegt denn da eigentlich vor? – Es liegt vor, meine lieben Freunde, dass im Grunde genommen der Kapitalismus zu einem furchtbaren Bedrücker der großen Menschenmasse geworden ist; es liegt vor, dass man wenig wird einwenden können gegen all das, was von Seiten der proletarischen Menschenbevölkerung gegen das Bedrückende des Kapitalismus in geistiger, in rechtlicher, in wirtschaftlicher Beziehung gesagt worden ist und weiterhin gesagt wird. Aber welche Konsequenz ziehen sozialistisch gestimmte Denker aus dieser ja unleugbaren Tatsache? – Sie ziehen die Konsequenz: Also muss der Kapitalismus abgeschafft werden, er ist ja ein Bedrücker, er ist etwas Furchtbares, er hat sich als eine Geißel der neueren Menschheit erwiesen, er muss abgeschafft werden. Was erscheint begreiflicher, was erscheint fruchtbarer für gewöhnliche Agitationen – die sich jetzt aber in furchtbaren Tatsachen durch Europa ausleben – als diese Forderung nach der Abschaffung des Kapitalismus? Für denjenigen, der sich nicht an das tote Denken der letzten vier Jahrhunderte allein wendet, sondern der in der Lage ist, sich zu wenden an das lebendige Denken, das wir vor allen Dingen für unsere Geisteswissenschaft brauchen, für den ist diese Rede, man müsse den Kapitalismus abschaffen, weil er ein Bedrücker, eine Geißel ist, geradeso logisch, geradeso durch die Tatsachenlogik begründet, wie wenn jemand sagen würde: Wir atmen fortwährend Sauerstoff ein und die tötende Kohlensäure aus, der Sauerstoff verwandelt sich in uns ja doch in Kohlensäure, warum atmen wir ihn denn erst ein? Er wird ja in uns doch zum todbringenden Gift. Zweifellos wird der Sauerstoff in uns zum todbringenden Gift, aber um des Lebens willen müssen wir ihn einatmen, denn der Lebensprozeß des menschlichen und tierischen Leibes ist nicht denkbar ohne die Sauerstoffatmung. Ebensowenig ist ein soziales Leben denkbar ohne die fortwährende Bildung von Kapital, namentlich ohne die fortwährende Bildung heute von produzierten Produktionsmitteln, und das ist ja im Grunde genommen, in Wirklichkeit das Kapital. Es gibt keinen sozialen Organismus, der nicht angewiesen wäre auf die Mitarbeiterschaft der individuellen menschlichen Fähigkeiten. Würde im weitesten Umkreise begriffen, was der soziale Organismus für Forderungen hat, so würde der Arbeiter sagen: Es handelt sich darum, dass ich Vertrauen habe zu dem Leiter der Unternehmungen; denn ohne dass er die Unternehmungen leitet, kann ich ja meine Arbeit nicht leisten, das ist ja ganz selbstverständlich. Aber wenn es Leiter von Unternehmen gibt, so ist die notwendige Folge, dass sich Kapital ansammelt. Es gibt keine Möglichkeit, der Ansammlung von Kapital zu entgehen. Fragt also ein in einer gewissen Weise es gut meinendes, aber falsch orientiertes sozialistisches Denken danach: Wie vernichtet man den Kapitalismus? – so ist diese Frage gleichbedeutend mit der: Wie vernichtet man den sozialen Organismus überhaupt, wie treiben wir in den Tod des sozialen Lebens hinein? Es ist ganz zweifellos für jeden, der die Dinge durchschauen kann, dass bei der allervernünftigsten sozialen Ordnung sich Kapitalien ansammeln, und es ist ebenso zweifellos, dass man nicht darüber nachdenken kann: wie verhindert man die Ansammlung von Kapitalien, wie verhindert man sie im Keime? Wie macht man es, dass keine Kapitalien sich ansammeln? – Aber sehen Sie, diese Gegenüberstellung, die ist den Menschen heute zu schwer. An solche Gedanken möchten die Menschen heute nicht heran. Sie möchten alles leicht haben gerade mit Bezug auf das Denken. Aber die Zeit gestattet nicht, dass wir es uns gerade mit Bezug auf das Denken heute leicht machen. Was nämlich immer vergessen wird, das ist, dass alles Lebendige im Werden ist, dass zum Begreifen alles Lebendigen die Zeit mitgehört, dass das Lebendige einmal so, einmal so ist. Es ist nicht schwierig bei einiger Bedachtsamkeit sich klarzumachen, dass zum Begreifen des Lebendigen in seiner Konkretheit die Zeit gehört. Denn der menschliche Organismus ist ein Lebendiges. Nehmen Sie den menschlichen Organismus – ich will sagen, Ihren Organismus – in der Zeit um halb zwei Uhr herum; Sie sind ja alle fleißige Leute, die nicht lange in der Kantine bleiben, und wenn Sie aus der Kantine kommen und eben gegessen haben, so sind Sie, wenigstens wäre es wünschenswert normal, dann voll gesättigt, Sie haben keinen Hunger. Ihr Organismus ist ganz gewiss ein konkreter, menschlicher Organismus. Sie definieren ihn, indem Sie ihn in seiner Konkretheit um dreiviertel zwei Uhr am Nachmittag nehmen, wenn Sie eben aus der Kantine kommen: ein menschlicher Organismus ist ein Lebewesen, das keinen Hunger hat. Aber um halb ein Uhr, wenn Sie zur Kantine gehen, ist es anders, da haben Sie alle Hunger. Da könnten Sie wiederum definieren: ein menschlicher Organismus ist das, was Hunger hat. – Was da vorliegt, ist, dass Sie das Konkrete, Lebendige in zwei verschiedenen Zeitpunkten anschauen, und dass das, was in zwei verschiedenen Zeitpunkten notwendig ist für das Gedeihen dieses Organismus, gerade entgegengesetzte Zustände sind, dass im Organismus etwas herbeigeführt werden muss, was so verarbeitet wird, dass sein Gegenteil eintritt. So ist es im natürlichen Lebendigen, so ist es aber auch im sozialen Lebendigen, meine lieben Freunde. Man kann im sozialen Lebendigen niemals verhindern, dass als Begleitereignis, als selbstverständliches Begleitereignis des Arbeitens der individuellen menschlichen Fähigkeiten Kapital entstehe, dass das Eigentum, das private Eigentum an Produktionsmitteln sich herausbilde. Wenn jemand sich einem Produktionszweige leitend widmet, und er auch ganz gerecht die erzeugten Produkte teilt mit dem handwerklich Mitarbeitenden, es würde der soziale Organismus gar nicht bestehen können, wenn nicht als Begleiterscheinung Kapital auftreten würde, Kapital, was der einzelne besitzt, ebenso wie er das besitzt, was er für seinen eigenen Gebrauch benötigt, was er so produziert, dass er es eintauschen will für seinen eigenen Gebrauch.

Aber ebensowenig wie man das Essen verbieten kann – weil man, wenn man gegessen hat, doch wieder hungrig wird -, wie man nachdenken kann, ob man eigentlich nicht essen soll, ebensowenig kann man darüber nachdenken, wie sich überhaupt kein Kapital bilde in irgendeinem Zeitpunkt, sondern man kann nur darüber nachdenken, wie dieses Kapital sich wiederum verwandeln muss in einem anderen Zeitpunkte, was aus ihm werden muss. Sie können nicht, ohne den sozialen Organismus in seiner Lebensfähigkeit zu untergraben, die Kapitalbildung verhindern wollen, Sie können nur wollen, dass das, was sich als Kapital bildet, nichts Schädliches werde innerhalb des gesunden sozialen Organismus.

Dieses, was in solcher Art gefordert werden muss für die Gesundung des sozialen Organismus, ist nur im dreigliedrigen sozialen Organismus möglich. Denn nur im dreigliedrigen sozialen Organismus kann ebenso wie im menschlichen natürlichen Organismus das eine Glied im entgegengesetzten Sinne arbeiten, als das andere Glied. Es liegt im individuellen Interesse, dass ein Glied ist im sozialen Organismus, in dem die individuellen menschlichen Fähigkeiten zum Ausdrucke kommen; aber es liegt in jedermanns Interesse, dass diese individuellen menschlichen Fähigkeiten nicht im Laufe der Zeit zum Schaden des Organismus sich umgestalten. Innerhalb des wirtschaftlichen Kreislaufes wird sich immer Kapital bilden. Lassen Sie es im wirtschaftlichen Kreislauf drinnen, so führt es zu unbegrenzter Besitzanhäufung. Sie können nicht als ein Wirtschaftliches belassen, was durch die individuellen menschlichen Fähigkeiten als Kapital sich ansammelt – Sie müssen es überleiten in die Rechtssphäre. Denn in dem Augenblicke, wo der Mensch für das von ihm allein oder in Gemeinschaft Erzeugte mehr erwirbt, als er verbraucht, in dem Augenblicke also, wo er Kapital ansammelt, in dem Augenblicke ist sein Besitz wahrhaftig ebensowenig eine Ware, wie die menschliche Arbeitskraft eine Ware ist. Besitz ist ein Recht. Denn Besitz ist nichts anderes, als das ausschließliche Recht, eine Sache – sagen wir, Grund und Boden oder ein Haus oder dergleichen – mit Hinwegweisung aller anderen zu benützen, über irgendeine Sache zu verfügen mit Hinwegweisung aller anderen. Alle anderen Definitionen des Besitzes sind unfruchtbar für das Verstehen des sozialen Organismus. Das heißt, in dem Augenblicke, wo der Mensch Besitz erwirbt, ist der Besitz etwas, was innerhalb des rein politischen Staates, innerhalb des Rechtsstaates zu verwalten ist. Aber der Staat darf das nicht erwerben, sonst würde er selbst Wirtschafter. Er hat es nur überzuleiten in den geistigen Organismus, wo die individuellen Fähigkeiten der Menschen verwaltet werden. Heute wird ein solcher Prozeß nur vollzogen mit den Gütern, die die «schofelsten» für die heutige Zeit sind. Für diese schofelsten Güter gilt das allerdings, was ich jetzt ausgeführt habe. Für die wertvollen Güter gilt es nicht. – Wenn heute einer etwas geistig produziert – sagen wir, ein sehr bedeutendes Gedicht, ein bedeutendes Werk als Schriftsteller, als Künstler -, so kann er ja für dreißig Jahre nach seinem Tode das Erträgnis seinen Nachkommen vererben. Dann geht die Sache als freies Gut nicht auf seine Nachkommen über, sondern auf die allgemeine Menschheit. Man kann dreißig Jahre nach dem Tode einen Schriftsteller in beliebiger Weise nachdrucken. Das entspringt einem ganz gesunden Gedanken; dem Gedanken, dass der Mensch auch das, was er in seinen individuellen Fähigkeiten hat, der Sozietät verdankt. Geradeso wenig wie man auf einer einsamen Insel sprechen lernen kann, wie man sprechen nur im Zusammenhang mit den Menschen lernen kann, so hat man seine individuellen Fähigkeiten auch nur innerhalb der Sozietät – gewiss auf Grundlage desjenigen, was im Karma liegt, aber das muss entwickelt werden durch die Sozietät. Man schuldet es in einer gewissen Weise der Sozietät. Es muss wiederum an die Sozietät zurückfallen und man hat es nur eine Zeitlang zu verwalten, weil es für den sozialen Organismus besser ist, wenn man es verwaltet: Man kennt das, was man hervorgebracht hat, selber am besten, man kann es daher zunächst auch am besten verwalten. Diese schofelsten Güter für die heutige Menschheit, nämlich die geistigen, die werden also in einer gewissen Weise unter Berücksichtigung des Zeitbegriffes sozial taxiert.

Wütend sollen einige kapitalistisch aussehende Zuhörer neulich in Bern geworden sein bei meinem Vortrage – so wurde mir berichtet -, als ich sagte: Warum sollte denn zum Beispiel ein Gesetz unmöglich sein, das den Kapitalbesitzer verpflichtete, so und so viele Jahre nach seinem Tode sein Kapital zur freien Verwaltung einer Korporation, der geistigen Organisation, des geistigen Teiles des sozialen Organismus zuzuweisen? Gewiss, man kann sich verschiedene Arten, ein konkretes Recht festzusetzen, ausdenken. Aber wenn heute die Menschen zurückkommen wollten auf das, was in der alten hebräischen Zeit rechtens war: nach einer bestimmten Zeit die Güterverteilung neu vorzunehmen – so würden die Menschen das heute als etwas Unerhörtes ansehen. Aber was ist die Folge davon, dass die Menschen das für etwas Unerhörtes ansehen? Die Folge davon ist, dass diese Menschheit in den letzten viereinhalb Jahren (des 1. Weltkrieges; Anmerkung IH) zehn Millionen Menschen getötet hat, achtzehn Millionen Menschen zu Krüppeln gemacht hat und sich anschickt, weiteres nach dieser Richtung zu tun. – Besonnenheit in solchen Dingen, das ist es denn doch, um was es sich heute vor allen Dingen handelt, meine lieben Freunde. Es ist tatsächlich nichts Unbedeutendes, wenn verlangt wird, dass zum Begreifen des sozialen Organismus der Zeitbegriff herangezogen wird. Man denkt ja den sozialen Organismus ganz zeitlos, wenn man sagt: das oder jenes soll schon im Entstehungszustand, im Status nascens, mit dem Kapital geschehen. Man muss das Kapital entstehen lassen, man muss es auch eine Weile verwaltet sein lassen von denen, welche es haben entstehen lassen; man muss aber wieder die Möglichkeit haben, durch einen gesund, das heißt dreigliedrig funktionierenden sozialen Organismus, es in die wirkliche Allgemeinheit der Menschen übergehen zu lassen. 

Sie können nicht sagen: warum sollte denn nicht ein eingliedriger sozialer Organismus das alles auch können. Das glauben nämlich heute noch die Menschen, dass der das auch kann. Es ist aber doch recht schlecht mit der Menschenpsyche gerechnet, wenn man dieses glaubt. Bedenken Sie nur, was es bedeutet – denn man muss mit der menschlichen Seele rechnen -, wenn vor einen Richter ein nah oder ein entfernter Verwandter gestellt wird. Er hat seine besonderen Gefühle als naher oder entfernter Verwandter, aber wenn er zu richten hat, wird er nicht nach diesem Gefühl richten, sondern nach dem Gesetze selbstverständlich. Er wird aus einer anderen Quelle heraus urteilen. Das in umfassender Weise psychologisch durchdacht gibt Ihnen Ausblicke auf die Notwendigkeit, dass die Menschen das, was im sozialen Organismus zusammenfließt, aus drei verschiedenen Richtungen her beurteilen, von drei Quellen her verwalten. Unsere Zeit fordert es nun einmal, dass man sich auf solche Dinge einlässt. Denn unsere Zeit ist die Zeit des Bewusstseinszeitalters. Und dieses Bewusstseinszeitalter will konkrete Ideen für den Menschen als Richtimpulse seines Handelns haben.

 

Aus einem Vortrag Rudolf Steiners, s. dazu: Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. GA 189,

(Hervorhebungen IH)

Erstmaliger Verweis auf dieses Zitat erfolgte im Artikel:

Ungerechtfertigte Kapitalismuskritik – Nicht der Kapitalismus, sondern dessen schädliche Auswirkungen müssen verhindert werden, sonst vernichtet man die Gesellschaft


 

 

 

 

 


Rudolf Steiner zu einer ungerechtfertigten Kapitalismuskritik wurde am 15.06.2014 unter Hide veröffentlicht.

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