Rudolf Steiner zu John Maynard Keynes und die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Friedensschlusses
Sehr verehrte Anwesende! Eine bedeutsame Erscheinung innerhalb des Gebietes der Besprechung gegenwärtiger öffentlicher Fragen ist das Buch des Engländers John Maynard Keynes über die wirtschaftlichen Folgen des Friedensschlusses. Man darf heute gerade dieses Buch bei Besprechung öffentlicher Angelegenheiten im weitesten Umfang erwähnen, weil es auf der einen Seite mit allen Vorurteilen, ich möchte sagen mit allen Vorempfindungen des Engländers geschrieben ist, weil es auf der anderen Seite aber abgefaßt ist mit einer außerordentlich bedeutsamen Sachkenntnis und Überschau über das öffentliche Leben der Gegenwart. Keynes war ja lange Zeit Delegierter beim englischen Schatzamt während des Krieges. Und Keynes war dann in der englischen Delegation beim Versailler Friedensschluß, bis er sein Amt niedergelegt hat, weil er von den Verhandlungen in Versailles im höchsten Maße enttäuscht worden ist im Juni 1919. Man muß sagen, wenn man genauer hinsieht gerade auf den Inhalt dieses Werkes, dann findet man manches, das schon recht bedeutsam ist für die Gewinnung eines Urteils über die öffentlichen Verhältnisse des gegenwärtigen Augenblicks. Ich will nur einiges Charakteristische gerade aus diesem Buche einleitungsweise meinen heutigen Betrachtungen vorausschicken.
Keynes war, als er nach Paris ging, sozusagen auch noch mit einem vollen Sack von Vorurteilen dahin gekommen – vor allen Dingen von Vorurteilen über den möglichen Erfolg dieses Friedensschlusses gerade von dem Gesichtspunkte eines Engländers aus, aber auch von Vorurteilen über die an dem Laufe der gegenwärtigen öffentlichen Angelegenheiten beteiligten Persönlichkeiten. Ich darf sagen, daß für mich ganz besonders interessant war das Urteil, das ein Beisitzer der Versailler Verhandlungen gerade über den Mann gewonnen hat, den eigentlich bis vor kurzer Zeit die ganze Welt angebetet hat. Wenn ich immer wieder und wiederum gegen dieses Urteil der ganzen Welt mich aufgelehnt habe – wahrhaftig mich aufgelehnt habe nicht bloß innerhalb Deutschlands, sondern, wo ich die Möglichkeit dazu hatte, das während der Kriegszeit selbst und bis zum Ende der Schreckenstage auch in der Schweiz zu tun -, da konnte man mit solcher Auflehnung wirklich recht wenig Eindruck machen. Man mußte erfahren, daß es selbst innerhalb Deutschlands eine wenn auch kurze Zeit gegeben hat, in der eine größere Anzahl von Menschen eingestimmt hat in die Verhimmelung des Woodrow Wilson – denn den meine ich und den meint Keynes -, eine Verhimmelung, die über die ganze Welt hin Platz gegriffen hatte. Immer wieder und wiederum mußte darauf aufmerksam gemacht werden aus den Anschauungen heraus, die ich ja auch hier in Stuttgart nun schon seit langer Zeit zu vertreten habe, daß man es zu tun hat bei Woodrow Wilson mit einem Mann der Phrase, mit einem Mann, dessen Worte keinen wirklichen, substantiellen Inhalt haben.
Und nun schildert Keynes das Gebaren jenes Woodrow Wilson beim Friedenskongreß in Versailles. Er schildert, mit welcher Glorie dieser Mann aufgenommen worden ist und mit welchem Vorurteil ihm begegnet worden ist. Und er schildert, wie dieser Mann fern von jeder Einsicht in irgendeine Wirklichkeit den Versammlungen beigewohnt hat. Er schildert, wie dieser Mann nicht einmal imstande war wegen seines langsamen Denkens, den Gedanken der anderen zu folgen, wie die anderen schon bei weit anderen Sachen waren, wenn Wilson noch nachdachte über irgend etwas, was sich in einer früheren Zeit zugetragen hat oder ausgesprochen worden ist. Man muß sagen, mit einer außerordentlichen Plastik ist die völlige Unzulänglichkeit und Phrasenhaftigkeit dieser weltberühmten Persönlichkeit der Gegenwart hier von einem Menschen geschildert worden, der wahrhaftig nicht vom mitteleuropäischen Standpunkte aus diese Tatsache eingesehen hat. Auch andere Leute hat Keynes geschildert, die gerade durch ihre Anwesenheit beim Versailler Friedensschluß auf die Geschicke Europas einen bedeutsamen Einfluß gewonnen haben. Von Clemenceau sagt er, daß dieser Greis die Zeit seit 1871 eigentlich völlig verschlafen habe, daß es ihm nur darauf ankäme, denjenigen Zustand Europas wiederherzustellen, welcher vor 1871 geherrscht hat, und vor allen Dingen das aus den gegenwärtigen Weltverhältnissen heraus zu gewinnen, was die Franzosen für ihre eigene Nationalität seit 1871 für notwendig halten. Dann schildert er den Staatsmann seines eigenen Landes, Lloyd George: wie der Mann nur auf Augenblickserfolge bedacht ist, wie der Mann aber einen feinen Instinkt hat und gewissermaßen wittert die Anschauungen und Meinungen derjenigen Persönlichkeiten, die ihn umgeben, mit denen er zu tun hat.
Und dann schaut sich Keynes das an, was verhandelt wird. Und er bespricht in seinem Buche mit der Einsicht und Methode eines Rechners, eines strengen Rechners, welche wirtschaftlichen Folgen für Europa dasjenige haben kann, was durch diesen sogenannten «Friedensschluß» ausgeheckt worden ist. Und er kommt dazu – jetzt nicht aus irgendwelchen politischen Ambitionen heraus, jetzt nicht aus irgendwelchen Empfindungen oder Empfindlichkeiten heraus, sondern aus Rechnungsresultaten heraus – zu sagen, daß dasjenige, was für Europa wirtschaftlich impulsiert wird durch diesen Friedensschluß, der ökonomische Niedergang Europas sein müßte. Nichts Geringeres erfährt man aus diesem Buche, durch exakte Rechnungsresultate wie gesagt, als daß die maßgebenden Persönlichkeiten Einrichtungen und Institutionen getroffen haben, die notwendigerweise zum Abbau der Wirtschaften von ganz Europa führen müssen.
Man kann, ich möchte sagen im Untertone des Buches lesen, wie der Engländer vom englischen Standpunkte aus spricht; wie er eigentlich doch auf seine Seele wirken läßt das Gefühl: dieser Untergang von Europa muß ein so gründlicher sein, daß England mit zu Schaden kommen muß. Man kann also sagen: Wie so viele gegenwärtige Staatsmänner des Westens hat es auch dieser Fellow der Universität von Cambridge ein wenig mit der Angst zu tun, aber eine Situationsschilderung der gegenwärtigen Verhältnisse findet man gerade in diesem Buche. So etwas beleuchtet Ihnen blitzartig mehr als alle übrigen Redereien die gegenwärtige internationale Situation der Welt.
Am bedeutsamsten erscheint mir aber bei diesem Buche eines: Nachdem dieser Mann vom Gesichtspunkte eines exakten Rechners aus seine Betrachtungen angestellt hat und zu gleicher Zeit in diese Betrachtungen hineinmischt ganz plastische Schilderungen eines Menschenkenners über die Persönlichkeiten, die beteiligt waren an den Institutionen, die zu diesem Untergang führen sollen, sieht man nichts, was von diesem Buche aus irgendeinen Lichtblick werfen würde auf das, was man zu tun habe, damit die allgemeine Zerstörung nicht eintrete, damit statt des Abbaues ein Aufbau kommen könne. Und charakteristisch ist es, daß gerade dieser Rechner auf den letzten Seiten dieses seines Buches einen außerordentlich merkwürdigen Satz hat. Er sagt ungefähr, er könne sich nicht denken, daß aus den alten Anschauungen, wie sie sich gerade so eklatant entwickelt haben beim Versailler Friedensschluß, irgend etwas Günstiges für die Fortentwicklung des europäischen Zivilisationslebens entfalten könne. Und er könne einzig und allein hoffen, daß eine bessere Zeit komme durch das Zusammennehmen aller Kräfte der Bildung und der Phantasie – «by setting in motion those forces of instruction and imagination», wie er sagt. Das heißt aber nichts Geringeres, meine sehr verehrten Anwesenden, als daß dieser exakte Rechner auf nichts anderes mehr hofft als auf eine Umwandlung der geistigen Verfassung der europäischen Menschen.
Von dieser Stätte aus wurde oftmals gesprochen über die Notwendigkeit dieser Umwandlung der geistigen Verfassung der europäischen Menschheit. Man kann heute nicht über wirtschaftliche Fragen sprechen, indem man in dieses Sprechen hinein einfach dasjenige fortsetzt, was man gewohnt ist aus den alten Verhältnissen heraus über das Wirtschaftsleben zu denken. Man kann heute nicht über die Umgestaltung der Staatsverhältnisse sprechen aus denjenigen Vorstellungen heraus, die man gewohnt ist zu haben nach den Denkgewohnheiten des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Und man kann über all dieses nicht sprechen, ohne daß man darauf hinweist, wie es notwendig ist, daß einziehe in das ganze Innere der europäischen Menschheit eine neue Art, über die öffentlichen Angelegenheiten zu denken. Denn dasjenige, was als Schreckenskatastrophe eingetreten ist, es ist das Ergebnis nicht dieser oder jener fehlerhaften Einrichtung, es ist das Ergebnis der ganzen Geistesverfassung, zu der diese europäische Menschheit gekommen ist im Beginn des 20. Jahrhunderts. Dasjenige, was sich abgespielt hat auf dem Gebiete des Rechtslebens oder Staatslebens, was sich abgespielt hat auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens – es ist nichts anderes als der Geist, besser müßte ich sagen, wie sich das ja wohl im Verlaufe des heutigen Abends noch herausstellen wird, der Ungeist, der seine Wirkungen geäußert hat in den Lebensbedingungen der europäischen Menschheit, der Ungeist, der hereingetragen wurde vom Geistesleben aus, vom sogenannten Geistesleben aus, in das Rechts- oder Staatsleben und in das Wirtschaftsleben. …
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