Rudolf Steiner zu Pessimismus und Optimismus

 

GA 186 S. 56 

Es war mir bei diesen Betrachtungen daran gelegen, einige Streiflichter zu werfen auf die Gestalt, die das soziale Denken in der Gegenwart annehmen sollte. Ich möchte heute zu dem Betrachteten einiges hinzufügen, das Ihnen Gelegenheit geben kann, diese Dinge auf ein höheres Niveau zu rücken, was wirklich eben nach den besonderen Anforderungen des Geistes unseres Zeitalters sehr notwendig ist. Alle die Dinge, die ich vorgebracht habe, und die ich noch vorbringen werde – ich möchte dies noch einmal wiederholen -, bitte ich Sie, so zu be- trachten, daß damit nicht eine Kritik der Zeit, der Verhältnisse gemeint ist, sondern daß lediglich Materialien geliefert werden sollen zur Richtung des Urteiles, Materialien, die eine Grundlage geben können, um einsichtsvoll die Verhältnisse überschauen zu können. Der geisteswissenschaftliche Gesichtspunkt kann nicht der sein, etwa eine soziale Kritik zu geben, sondern lediglich der, ohne Pessimismus und ohne Optimismus auf das hinzuweisen, was ist. Deshalb ist man ja natürlich doch immer genötigt, Worte zu gebrauchen, die von dem einen oder dem andern so aufgefaßt werden, als ob man die eine oder die andere Gesellschaftsklasse kritisieren wollte. Das ist nicht der Fall. Wenn hier von Bourgeoisie gesprochen wird, so wird so gesprochen wie eben von einer historisch notwendigen Erscheinung, nicht, daß irgendein Vorwurf gegen das erhoben werden soll, was ja von einem gewissen geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus eben einfach notwendig war. Und so bitte ich auch die Dinge aufzufassen, die ich heute vorbringen werde.

GA 186 S. 109 

So muß man auf die seelischen Dinge eingehen. In unserer Zeit ist einmal das Zeitalter, in dem man im eminentesten Sinne auf die seelischen Dinge eingehen muß, sonst wird man nicht begreifen, was in unserer Zeit notwendig ist; sonst wird man doch über diese schwierigen, tragischen Verhältnisse zu keinem irgendwie heilsamen Urteile kommen können. Und heilsame Urteile sind es ja eigentlich, die aus der Misere der Gegenwart doch allein hinwegführen können und auch hinwegführen werden. Zum Pessimismus im ganzen und großen ist kein Anlaß; aber zur Umkehrung des Urteils ist viel Anlaß. Vor allen Dingen bei jedem einzelnen ist zur Umkehrung des Urteiles im höchsten Maße Veranlassung. 

Man muß schon sagen: Es ist sehr, sehr merkwürdig, wenn man sieht, wie heute die Menschen gleichsam schlafend ihre Urteile abgeben, und wie sie rasch vergessen von einem Zeitraum auf den andern, wenn die Zeiträume auch noch so kurz sind. Wir werden es ja insbesondere jetzt erleben, wie die Menschen vergessen werden die Art, wie sie geurteilt haben, was sie über die ganze Welt hin alles phraseologiert haben über Recht, über die Notwendigkeit, für das Recht zu kämpfen gegen das Unrecht. Wir werden es erleben, daß die meisten Menschen, die in dieser Form vor einiger Zeit von dem Recht gesprochen haben, dieses vergessen und gar nicht sehen werden, wie es sich in der nächsten Zeit bei der größten Anzahl derjenigen, die vom Recht gesprochen haben, einfach um die Geltendmachung der ganz gewöhnlichen Macht handelt. Das soll ihnen natürlich nicht übelgenommen werden; aber man soll sich nur klar sein darüber, daß, wenn man auf der einen Seite vom Recht gesprochen hat, man dann kein Recht dazu hat, zu übersehen, daß es sich bei den größten Schreiern zuletzt um Macht und Machtimpulse handelt. Wie gesagt, das soll nicht übelgenommen werden, aber schön wird nicht sein, wie sich dasjenige geltend macht, was vor verhältnismäßig kurzer Zeit nur immer von Recht und Recht und Recht gesprochen hat. Nicht erstaunt kann man darüber sein. Aber erstaunt müßten diejenigen sein, die mitgesprochen haben, die mitgetan haben, wenn sie jetzt so merkwürdig das Bild verändert finden! Sie müßten dann wenigstens zu dem Bewußtsein kommen, wie sehr der Mensch geneigt ist, seine Urteile nach Illusionen und nicht nach Wirklichkeiten zu bilden.

GA 186 S. 184 

Diese Dinge müssen ins Auge gefaßt werden. Es war natürlich das berechtigte Los von Mittel- und Osteuropa, sich beide Ohren zu verstopfen und beide Augen blind zu machen vor den okkulten Tatsachen, nicht hinzuhören auf sie, abstrakte Mystik zu treiben, abstrakten Intellektualismus zu treiben, abstrakte Dialektik zu treiben. Aber jetzt beginnt das Zeitalter, wo es so nicht weiter geht! Es ist aus solchen Betrachtungen ja nicht Pessimismus zu holen, nicht Trostlosigkeit zu holen. Nein, Kraft, Mut, Sinn für Bekanntwerden mit dem, was nottut, das ist dasjenige, was wir daraus ersehen. Und in diesem Sinne sollen wir eingedenk sein, daß wir wahrhaftig nicht gegen die Aufgabe des Zeitalters, sondern mit den Aufgaben des Zeitalters uns innerhalb dieser anthroposophisch orientierten geisteswissenschaftlichen Bewegung zu betätigen haben. Seien wir uns klar darüber, was wir sonst verschlafen. Auch zur Ausbildung der sozialen Triebe führt uns wachend und bewußt jene Geisteswissenschaft, die dem Bewußtsein zeigt, was sich sonst dem Bewußtsein verbirgt, die uns zeigt, welche Kräfte der Mensch entwickelt, wenn er frei vom Leibe ist, wie er es von dem Einschlafen bis zum Aufwachen ist. Seien wir uns klar: Wir pflegen die dem Zeitalter notwendigsten Kräfte, wenn wir wachend denken über dasjenige, was unsere Seele doch nur kraftvoll durchdringen kann, wenn wir wachend darüber denken. Sonst werden wir machtlos, wenn wir es nur schlafend entwickeln müssen. 

 

GA 186 S. 185 

Dem steht gegenüber der Widersacher, dasjenige, was die Bibel den widerrechtlichen Fürsten dieser Welt nennt. In den verschiedensten Gestalten macht er sich geltend. Eine dieser Gestalten ist diese: die Kräfte, die uns als Menschen zur Verfügung stehen, um aus freiem Entschluß heraus uns zu solchem zu wenden, wie das ist, von dem heute gesprochen worden ist, diese Kräfte, die in den freien Entschluß gestellt werden sollen, in den Dienst der Körperlichkeit zu stellen. Verschiedene Werkzeuge hat der Widersacher, der widerrechtliche Fürst dieser Welt. Er hat als solche zum Beispiel auch Hunger und soziales Chaos. Da wird durch physische Mittel, durch Zwang dann diejenige Kraft verwendet, die in den Dienst des freien Menschen gestellt werden sollte. Sehen Sie nur hin, wie heute die Menschheit Ihnen auf Schritt und Tritt zeigt: Sie will nicht aus freiem Entschlüsse sich zum sozialen Leben und zu der Erkenntnis des wahren Menschenfortschrittes hinwenden, sie will sich zwingen lassen. Sehen Sie, wie dieser Zwang noch nicht einmal so weit geführt hat, daß die Menschen schon irgendwie unterscheiden zwischen dem Geiste der übersinnlichen Welt, zwischen dem Christus-Geiste und dem Widersacher-Geiste, dem widerrechtlichen Fürsten dieser Welt! Da sehen Sie dieses Verhältnis, und Sie können sich sagen, wie es einem ja erklärt, daß heute an vielen Orten die Menschen stehen und sich dagegen sträuben, irgend etwas von geistiger Verkündigung und geistigen Wahrheiten und geistiger Wissenschaft aufnehmen zu wollen: sie sind eben besessen von dem widerrechtlichen Fürsten dieser Welt. 

Betrachten Sie sich, indem Sie aus innerstem freien Entschlüsse sich dem geistigen Leben zuwenden, einmal im bescheidensten, aber auch im ernstesten und kraftvollsten Sinne als die Missionare für den Christus-Geist in unserer Zeit, als diejenigen, die zu bekämpfen haben den widerrechtlichen Fürsten dieser Welt, der besessen macht alle jene, die nicht aus dem Bewußtsein heraus, sondern aus anderen Kräften heraus sich zwingen lassen wollen, irgend etwas zu verwirklichen, was die Menschheit der Zukunft entgegenführt. Solche Gesinnung führt Sie dann nicht zum Pessimismus, solche Gesinnung läßt Ihnen keine Zeit, die Welt bloß pessimistisch zu betrachten. Sie wird Ihnen nicht die Augen und Ohren davor verschließen, das zum Teil Starke, auch furchtbar Tragische, was geschehen ist, in seiner wahren Gestalt zu sehen. Aber sie wird Ihnen vor allen Dingen das so vor das Seelenauge führen, daß Sie sich sagen: Ich bin jedenfalls dazu berufen, alles ohne Illusionen zu sehen; aber ich habe nicht Pessimismus oder Optimismus zu haben, sondern alles daran zu setzen, damit in meiner eigenen Seele die Kraft erwache, mitzuarbeiten an der freien Entwickelung der Menschen, an dem Fortschritt, auf jenem Platz, an dem ich eben stehe. – Und nicht zum Pessimismus oder Optimismus soll angeregt werden, auch wenn man von geisteswissenschaftlichem Standpunkte aus ohnedies scharf auf Schäden oder Trägheit der Zeit hinweist, sondern es soll dazu angeregt werden, daß der Mensch auf sich stehe, gerade in sich erwache, um zu arbeiten und die richtigen Gedanken zu pflegen. Denn Einsicht ist vor allen Dingen notwendig. Hätten nur genügend Menschen heute den Trieb, sich zu sagen: Wir müssen vor allen Dingen in solche Dinge Einsicht haben, das andere wird kommen! – Und wenn man gerade Einsicht in soziale Dinge haben will, so kommt es darauf an, daß wir für das wache Leben vor allen Dingen den Willen haben, uns Erkenntnisse anzueignen. Die Anspornung des Willens – dafür ist ja gesorgt -, die kommt schon, denn die entwickelt sich. Wenn wir im wachen Leben uns nur ausbilden wollen, uns Vorstellungen machen wollen für das soziale Leben, dann werden wir nach und nach dazu kommen, und zwar nach einem okkulten Gesetze so, daß jeder, der für sich selbst diese Erkenntnisse sucht, sogar immer noch einen anderen mitnehmen kann. Es kann jeder, dem Willen nach, für zwei sorgen. Wir können viel bewirken, wenn wir nur den ernstlichen Willen haben, uns zunächst Einsicht zu verschaffen. Das Fernere würde dann schon kommen. Schlimm ist nicht so sehr, daß heute noch viele Menschen nichts tun können; unendlich schlimm ist es aber, wenn die Menschen sich nicht entschließen können, die sozialen Gesetze geisteswissenschaftlich wenigstens kennenzulernen, sie zu studieren. Das andere wird kommen, wenn sie studiert werden.

GA 186 S. 316 

Wäre diese Weitenkrisis nicht gekommen, so würde noch lange Zeit dieser Zustand gedauert haben, es wäre eigentlich ein großer Brei da, aus dem die einzelnen Individualitäten dann herauskämen, die allerdings die Intimitäten des deutschen Wesens haben würden. Aber das Unglück, das Chaos, wird aus der Weltenkrise heraus gerade das erstehen lassen, was erstehen soll, was immer da war, was nur unter der Macht des Westens sich nicht entfalten konnte. So liegen die wirklichen Tatsachen. Es ist kein Grund zum Pessimismus, auch in Mitteleuropa nicht. Aber man muß dann zu den tieferen Gründen hinuntersteigen, die dem Werden zugrunde liegen. 

Dasjenige, was die Ententemächte jetzt ausführen, das mag so oder so aussehen. Darauf kommt furchtbar wenig an, denn im Grunde ihres Herzens wollen sie etwas Unmögliches. Sie wollen verhindern, daß etwas heraufkommt, was sich in der Mitte Europas und im Osten entwickeln muß. Das aber hängt zusammen mit dem geistigen Fortschritt der Menschen. Der ist nicht zu verhindern. Aber es ruft das andere hervor, daß der Mensch, wenn er es mit der Erdenzukunft ernst meint, an den Geist eben glauben muß. Nur aus dem Geiste, aus der Kraft des Geistes wird dasjenige kommen, was kommen muß, auch zur Lösung der so brennenden sozialen Forderung. Es war notwendig, daß im Maschinenzeitalter fünf mal hundert Millionen unsichtbare Menschen, das heißt, als Maschinen sichtbare Menschen, entstanden sind, damit allmählich die Menschen fühlen lernen: Sie dürfen nicht so bezahlt werden, wie die Maschinen bezahlt werden. 

Und es war notwendig, daß diese furchtbare Katastrophe, in der das Maschinenzeitalter seine größten Triumphe gefeiert hat, heraufgekommen ist. Aber aus dieser Katastrophe wird aufstehen Kraftentfaltung der Menschen. Und aus dieser Kraftentfaltung wird der Mensch auch eine gewisse Möglichkeit schöpfen, sich wiederum recht mit dem Göttlichen, mit dem Geistigen zu verbinden. Ebensowenig, wie es für den Menschen ein bloßes Unglück war – um jetzt den Ausgangspunkt der Erdenentwickelung mit dem zu vergleichen, was ja viele Menschen mit Recht das furchtbarste Ereignis in der Weltgeschichte nennen – daß die Menschen aus dem Paradiese vertrieben worden sind, so ist es nicht ein bloßes Unglück, daß eine solche Katastrophe die Menschen betroffen hat. Die wertvollsten Wahrheiten sind schließlich im Grunde genommen paradox. Man kann heute ja – ich habe öfter auf diese Sache aufmerksam gemacht – sagen: Die Menschen waren so schändlich, das wertvollste Wesen, das auf der Erde erschienen ist, den Christus Jesus, ans Kreuz zu schlagen. Sie haben ihn getötet. Man kann sagen: Es war «schändlich» von den Menschen. Aber dieser Tod, der ist ja der Inhalt des Christentums. Durch diesen Tod ist ja das geschehen, was wir das Mysterium von Golgatha nennen. Ohne diesen Tod gäbe es kein Christentum. Dieser Tod ist das Glück der Menschen, dieser Tod ist die Kraft des Erdenmenschen. So paradox sind die Dinge der Wirklichkeit. Man kann auf der einen Seite sagen: Es war schändlich, daß die Menschen den Christus ans Kreuz geschlagen haben – und dennoch ist mit diesem Tode, mit diesem Ans-Kreuz-Schlagen, das größte Erdenereignis eingetroffen. Ein Unglück ist nicht immer bloß ein Unglück. Ein Unglück ist oftmals der Ausgangspunkt für das Erringen menschlicher Größe und menschlicher Stärke. 

 

 

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Rudolf Steiner zu Pessimismus und Optimismus wurde am 21.10.2023 unter Hide veröffentlicht.

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