Rudolf Steiner zur Neigung der Menschen, ernste Sätze wie Zeitungslektüre zu lesen

 

aus GA 171 S. 354 

… Gewiß, man könnte leicht glauben, es wäre pessimistisch geschildert, wenn immer wieder und wiederum gerade von diesem Orte aus darauf hingewiesen wird, wie das geistige Leben unserer Zeit in eine Art von Sackgasse gekommen ist und dieses Kommen in eine Sackgasse zeigt: es muß Rettung und Hilfe durch die Geisteswissenschaft kommen. Aber wer das für übertrieben, für radikal oder zu pessimistisch hält, der studiert nicht die Sehnsuchten, die in den letzten Zeiten bei den besten Menschen des 19. Jahrhunderts und Beginn des 20. Jahrhunderts aufgetreten sind. Wenn Sie irgendeine Schrift von Troxler in die Hand nehmen, so werden Sie sehen: bei ihm leben solche Sehnsuchten ganz besonders; aber er konnte wenigstens noch, wenn auch nicht in der Gestalt der heutigen Geisteswissenschaft, auf eine Anthroposophie hinweisen. Die spätere Zeit konnte es nicht mehr. Ich habe Ihnen öfter von Herman Grimm gesprochen, der ja gewissermaßen ein halber Schweizer ist, da seine Mutter aus der Schweiz herstammte; ich habe auch in der letzten Zeit wieder darauf aufmerksam gemacht, wie Herman Grimm dasjenige, was die Leute heute schon aus der Schule mitbringen als Kant-Laplacesche Hypothese, so charakterisiert hat, daß er sagt, Gelehrte künftiger Zeiten werden viel Mühe haben, um zu verstehen, wie diese Phantasterei von einem gewissen Zeitalter hat angenommen werden können. Dieser Herman Grimm, er konnte natürlich nicht zu einer Geisteswissenschaft kommen, dazu war das Ende des 19. Jahrhunderts nicht geeignet. Aber er sah die Sackgasse, in die sich das neuere Geistesleben hineinbewegte. Und interessant, unendlich interessant ist es, zu sehen, wie solche Menschen, solche feinorganisierten Geister, solche an Goethe herangewachsenen Geister, wie die von etwas fortwährend sprechen, das sie eigentlich nicht kennen, das aber kommen muß. Sie sprechen fortwährend von etwas, was kommen muß. Die Antwort wäre das, was die Geisteswissenschaft der Menschheit geben konnte. Aber davon wissen sie nichts. Aber sie sprechen aus ihren Sehnsuchten heraus in starken Worten, in solchen Worten, welche noch manches von dem an Radikalismus überbieten, was hier von diesem Orte aus gesagt worden ist, die aber dadurch gerade wiederum zeigen, daß die Dinge nicht falsch aufgefaßt worden sind. 

Herman Grimm, der feinsinnige Betrachter des menschlichen Geisteslebens, namentlich von seiner künstlerischen Seite her, er hat oftmals seinen Blick gewendet auf die Frage: Wohin soll das nun führen, wenn man sieht, was in der letzten Zeit geworden ist? Gewiß, er hat sich dann immer wieder getröstet: Es wird eine Zeit kommen, wo man Goethe verstehen wird, wo man sich immer mehr und mehr in ihn einleben wird. Aber auf der anderen Seite sind ihm oftmals auch andere Gedanken gekommen. Er hat würdigen können die großen Aufschwünge, die großen Fortschritte, die gekommen sind im 19. Jahrhundert; aber er hat andererseits auch die Schattenseiten dieser Fortschritte gesehen. 

In einem Essayband, der 1890 erschienen ist, ist eine interessante Stelle, die gerade, ich möchte sagen, diese Empfindungen ausspricht. Da sagt Herman Grimm: 

«Die Welt erfüllt der Drang nach Erreichung eines unbekannten Zieles, dem zu Liebe die ungeheueren Anstrengungen gemacht werden, deren Zeuge wir sind.» 

Also ein unbekanntes Ziel; dasjenige, was er sieht, sind ihm vielfach Anstrengungen zu einem unbekannten Ziele. Er sagt: 

«Es ist, als empfänden alle Völker der Erde, jedes in seiner Art, Vorbedingungen für einen allgemeinen geistigen Ringkampf, sich vom Vergangenen als maßgebender Macht zu befreien und zur Aufnahme eines Neuen sich tauglich zu machen. Erfindungen und Entdeckungen, meist unerhörter Art und oft von umfassenden augenblicklichen Folgen begleitet, befördern diesen Zustand unseres erwartungsvollen Fortmarschierens in geschlossenen Massen. Wohin?» – 

fragt Herman Grimm. Sie sehen, diese Fragen sind schon gestellt! – 

«Wohin? Es belebt uns ein Gefühl, als ob die gebrachten Opfer später einmal, jedes einzelne als gering, alle zusammen als unentbehrlich erscheinen müßten.» 

Und jetzt gibt er in abstrakten Worten dasjenige an, was er allein über das Ziel zu sagen weiß: 

«Das Ziel ist: die gesamte Menschheit in ihrer letzten Gestaltung zu einem Reiche von Brüdern zu machen, die nur den edelsten Beweggründen nachgebend gemeinsam sich weiterbewegen.» 

Aber wenn so ersehnt wird, die Menschheit in einem Reiche der Brüderlichkeit zu vereinen, was, wie wir ja aus Vorträgen auch gesehen haben, die in der letzten Zeit gehalten worden sind, für den physischen Plan wohl gilt, dann ist dazu notwendig das gemeinsame Band des Verständnisses für ein Allgemein-Menschliches. Dieses Allgemein-Menschliche ist aber nicht vorhanden, wenn nicht Geisteswissenschaft verbreitet werden kann; denn die neuere Entwickelung ging dahin, die Menschheit zu zersplittern. Dann sagt Herman Grimm weiter: 

«Wer die Geschichte nur auf der Karte von Europa verfolgt, könnte glauben, ein gegenseitiger allgemeiner Mord müsse unsere nächste Zukunft erfüllen.» 

Wir lesen diese Dinge heute mit besonderem Gefühle, wenn ein Mensch 1890 die Geschicke Europas ansieht und zu dem Gefühle kommt: 

«Wer die Geschichte nur auf der Karte von Europa verfolgt, könnte glauben, ein gegenseitiger allgemeiner Mord müsse unsere nächste Zukunft erfüllen; während der, der sie am Globus studiert» – 

das heißt im Zusammenhang der Erde mit der ganzen Welt – 

«sich der Gewißheit hingeben darf, daß vielmehr die Stunde herannahe, wo die in gleichen Gedanken höchsten geistigen Strebens vereinten germanischen Völker all den ungezählten Millionen Asiens und Afrikas und was der Erdkreis sonst beherbergt, den Weg zu den wahren Gütern des menschlichen Lebens erschließen werden.» 

Und jetzt kommt jener Satz, der zeigt, wie Menschen, die heraufkommen gesehen haben, was im 19. Jahrhundert sich in dem Geschicke der Menschheit vorbereitet, sprechen konnten über das, was sie mit offenen Augen angesehen und nicht so verschlafen haben, wie der größte Teil der Menschheit. Da sagt Herman Grimm weiter: 

«Man gestatte diesen Gedanken …»

Er meint den Gedanken von der Verbrüderung der Völker, wie er ihn eben ausgesprochen hat, und von der Betrachtung der Erde nach dem Globus. 

«Man gestatte diesen Gedanken, der mit unseren ungeheuern kriegerischen Rüstungen und denen unserer Nachbarn nicht im Einklange zu stehen scheint, an den ich aber glaube, und der uns erleuchten muß, wenn es nicht überhaupt besser sein sollte, das menschliche Leben durch einen Gemeinbeschluß abzuschaffen und einen offiziellen Tag des Selbstmordes anzuberaumen.» 

Ich denke, auf eines könnten solche durchaus ernsten Sätze, die tiefen menschlichen Empfindungen entsprechen, hinweisen: daß Ernst notwendig ist für das Leben in unserer Zeit. Stellen wir uns vor, was alles in der Seele des Menschen vorgeht, der solche Empfindungen äußert! Aber ich weiß, viele lesen solch einen Satz auch und lesen ihn, wie man eben heute Zeitungslektüre liest; sie sind unvermögend, in den Ernst der Zeit hineinzuschauen, weil es bequemer ist, zu schlafen. Aus der Bequemlichkeit, die Forderungen der Zeit zu verschlafen, geht aber das Unverständnis für die Geisteswissenschaft hervor. Je weniger man schlafen will, um so mehr man einsehen will, wie nötig es ist, heute nicht zu schlafen, desto mehr wird man erkennen, daß so etwas, wie die Geisteswissenschaft es will, der Menschheit nötig ist. Für uns aber, die wir in der Geisteswissenschaft stehen, ist es notwendig, daß wir uns wappnen mit diesem Ernst, damit wir das richtige Verhältnis zu derjenigen Welt finden, die diesen Ernst noch nicht hat. 

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Rudolf Steiner zur Neigung der Menschen, ernste Sätze wie Zeitungslektüre zu lesen wurde am 26.11.2022 unter Hide veröffentlicht.

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