Rudolf Steiner zur Völkerwanderung der „Ungebildeten, Unselbständigen, Abhängigen, Führerbedürftigen“ 

 

 

von Rudolf Steiner 

 

 

Aus Nr. 188 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite 184ff:

Man schlage zum Beispiel ein Heft einer in der Schweiz hier erscheinenden Zeitschrift auf, wo ein in dieser Zeitschrift oftmals auftretender Schriftsteller sich wieder einmal über eine bestimmte Zeitfrage auslässt. Er kommt in diesem Aufsatz, wo er sich so auslässt, darauf zu sprechen, was er eigentlich unter dem Volke versteht. Er redet von der Schuld der verschiedenen Persönlichkeiten am Kriege; er spricht davon, was ja auf der einen Seite viel Richtiges hat, wie führende Persönlichkeiten innerhalb der mitteleuropäischen Bevölkerung anzuklagen sind – dass man den Schuldbegriff nicht anwenden kann, das habe ich ja hier schon ausgeführt -; dann aber findet er es nötig zu sagen, was seiner Meinung nach eigentlich das Volk ist. Nun sehen wir, wie dieser Herr das Volk gewissermaßen definiert: Er rechnet zu diesem Volke neun Zehntel der Menschheit eines Gebietes, das zum Beispiel Deutschland, Österreich, England, Frankreich und so weiter umfasst. Und von diesem Volke sagt er, es sei die Gesamtheit der ungebildeten, unfreien, in weitestem Sinne von Führern abhängigen, eben führerbedürftigen Persönlichkeiten. 

Dieser Mann definiert also das Volk als die ungebildeten, unselbständigen, abhängigen, in weitestem Sinne führerbedürftigen Menschen. Nun, wenn man die meisten heutigen Persönlichkeiten, die der bürgerlichen oder einer noch höheren Menschenklasse angehören, auf Herz und Nieren, wie man sagt, prüfen würde, so würden sie wahrscheinlich auch, wenn sie sich aussprechen sollten, was sie unter dem Volke verstehen, ungefähr dasselbe antworten: Es ist die breite, ungebildete, unselbständige, abhängige, führerbedürftige Menschheit, neun Zehntel der Gesamtmenschheit. Nur ein Zehntel, müsste man demnach sagen, ist gebildet, ist selbständig, ist unabhängig, bedarf keines Führers. Dazu rechnen sich gewöhnlich diejenigen, die sich ein Urteil zutrauen über das, was eigentlich Volk ist. 

Gegenüber solchen Begriffen, die im eminentesten Sinne wichtig sind, wenn man sich ein soziales Urteil bilden will, ist es vor allen Dingen notwendig, sich in gültiger Weise die Frage vorzulegen, ob das ein wirklichkeitsgemäßer Begriff im weitesten Sinne des Wortes ist: neun Zehntel der Bevölkerung als ungebildete, unselbständige, abhängige, führerbedürftige Menge anzusehen. Das ist eine Frage, die jeder sich vorlegen muss, der sich ein selbständiges soziales Urteil aneignen will. Allerdings, wenn man sich über solche Fragen verständigen will, dann muss man schon die Intensität des Gedankens ein wenig sich heranbilden lassen durch das, was man an Hand der Geisteswissenschaft für diese Intensität des Gedankens gewinnen kann. Denn alles übrige, was heute dem Denken Intensität gibt, reicht nicht hin, das sieht man ja an all der Gedankenlosigkeit, die heute die Menge beherrscht. Ich weiß nicht, kann man es Zufall nennen – in Wirklichkeit gibt es ja nicht einen Zufall -, ich habe in den letzten Monaten ein Sprichwort immer wieder und wiederum zitiert gefunden, wenn so die Verhältnisse in der Öffentlichkeit besprochen wurden, bald von dem, bald von jenem. Dieses Sprichwort war: «Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber». – Die Leute finden es ganz selbstverständlich, dieses Sprichwort anzuwenden. Jeder findet es selbstverständlich, dass dieses Sprichwort einen Sinn hat. Ich finde nicht den geringsten Sinn dabei, denn ich glaube, dass das nicht die dümmsten, sondern gerade die gescheitesten Kälber wären, denn dann würden sie sich diejenigen als ihre Metzger wählen – da sie ja doch schon sterben müssen, und für anderes kommen ja diese Kälber nicht in Betracht -, die dieses Sterben am schmerzlosesten bewirken, während diejenigen, die sich nichts wählen, wahrscheinlich am schlechtesten wegkommen werden. Da wäre gerade das Gegenteil richtig: Nur die gescheitesten Kälber wählen sich ihre Metzger selber. Aber geradeso wie diese Dinge gedankenlos hingenommen werden, so werden auch wichtige Urteile, die geändert werden müssen, hingenommen; denn der Mensch will sich gern beim Überblicken des Lebens eigentlich die Gedankenarbeit, die Gedankenbetätigung ersparen, er will diese Gedankenkraft nicht anwenden. 

Schärfere Gedankentätigkeit, das ist es, was wir heute brauchen, um zu wirklichkeitsgemäßen Begriffen zu kommen. Mag bei dem sogenannten Fortgeschrittenen, wie man ihn im Sinne der heutigen Schulweisheit, der heutigen Aufklärung, des heutigen demokratischen Bewußtseins nennt, auch der Gedanke etwas noch so Verlockendes haben: 

die Ungebildeten, Unselbständigen, Abhängigen, Führerbedürftigen betragen neun Zehntel des gesamten Volkes –

einen Wirklichkeitswert hat das nicht, und zwar aus folgendem Grunde.

Gehen wir aus von der historischen Tatsache, die sehr viel lehren kann in dieser Beziehung. Nicht wahr, das Christentum entstand in einer unbekannten Provinz des Römischen Reiches durch das Mysterium von Golgatha. Innerhalb des damaligen Römischen Reiches, das ja auch das Griechentum schon in sich aufgenommen hatte, lebte eine Bevölkerung, die in ihrem Schoße wahrhaftig eine tiefe, eine bedeutungsvolle Weisheit trug. Die Kirche hat furchtbare Anstrengungen machen müssen, um die alte Gnosis – ich habe das hier einmal auseinandergesetzt – ihren Spuren nach zu verwischen. Aber diese Gnosis war da. Höchstes Wissen war da. In der Tat, innerhalb des Schoßes des Römischen Reiches war in der Zeit der Entstehung des Christentums höchste Weisheit schon vorhanden. Das ist gar nicht in irgendeiner Weise abzuleugnen. Aber es war unmöglich, dass diese höchste Weisheit den historisch starken Impuls des Christentums in sich aufgenommen hätte. 

Der starke Impuls des Christentums – ich habe neulich erst davon gesprochen – ist aufgenommen worden von den nördlichen Barbaren, die diese Weisheit der südländischen Bevölkerung nicht hatten. Erst als die nördlichen Barbaren entgegenkamen der Welle des Christentums, lebte sich das Christentum so aus, wie es sich für den Rest der vierten nachatlantischen Zeit und auch noch für den Anfang der fünften nachatlantischen Zeit ausleben sollte. Erst heute ist ein anderes Verhältnis gekommen.

Dasjenige, was man dabei berücksichtigen muss, ist, dass nicht die für ein gewisses Zeitalter höchst entwickelte, abstrakt gewordene Geistigkeit den historischen Impuls in seiner größten Stärke aufzunehmen vermag, sondern dass gerade die scheinbar zurückgebliebene, mehr mit der instinktiven menschlichen Natur zusammenhängende Wesenheit des Menschen den Impuls in der stärksten Weise aufnehmen kann. Es wird nicht viel mehr gesagt mit dem Urteil, das ich gerade vorhin angegeben habe über die neun Zehntel der ungebildeten, abhängigen, führerbedürftigen Menschheit, als dass sich diese Menschheit mit Bezug auf ihre Geistigkeit unterscheide von denjenigen, die sich als die führenden Menschen dünken. 

Aber diese sogenannten führenden Menschen, sie haben schon einen degenerierten Verstand, eine dekadente Intelligenz. In der neun Zehntel betragenden, sogenannten ungebildeten, abhängigen, führerbedürftigen Menschheit ist, wie man sagen könnte, eine Intelligenz noch latent verborgen, die ungeheuer viel empfänglicher ist für den starken geistigen Impuls, der heute aufgenommen werden soll, der ungeheuer viel stärker ist als derjenige, der bei der sogenannten Intelligenz mit der dekadenten Intelligenz zu finden ist. 

Dasjenige, was heute den Träger der geistigen Impulse trennt von der empfänglichen breiten Masse, das ist nicht diese breite Masse selbst, das sind nicht die Seelen der breiten Masse der Menschheit, sondern das sind die Führer, das ist die Führerschaft. Und diese Führerschaft auch der sozialistischesten Proletarier, diese Führerschaft, die ist selbst ganz mit dem dekadenten Verstande der Bourgeoisie getränkt, durchzogen. Das ist dasjenige, was vor allen Dingen notwendig ist: ein reinliches, sauberes Geständnis, dass für die wirklichen Impulse geistiger Entwickelung der Weg zu den sogenannten ungebildeten, abhängigen, führerbedürftigen, unselbständigen Menschen wirklich zu finden ist, wenn man nur Einsicht hat in die eigentümliche Wirkung dieser Intelligenz.

Phantastischer als dasjenige Bürgertum, welches die Phantasie heute so sehr verpönt, war eigentlich noch keine Menschenklasse. Denn das Phantastischste ist die heutige Praxis. Alles das, was heute lebenspraktisch sein will, ist es eigentlich bloß dadurch, dass es sich sozusagen gesetzlich die Möglichkeit verschafft hat, sich durchzudrücken, sich durchzudrängen, während der andere, der sich nicht die Möglichkeit verschafft hat, sich durchzudrängen, an sich noch so geschickt, noch so praktisch sein mag, er drückt sich eben nicht durch. 

Man muss eine Empfindung haben dafür, dass wirklich heute in den breiten Massen, die nicht geführt, sondern verführt sind durch ihre Führer, etwas nachgedrängt hat aus jener Zeit, die gewöhnlich in der Geschichte, wenn auch etwas unrichtig, als die Zeit der Völkerwanderung bezeichnet wird. Damals kamen gewissermaßen barbarische Völker herauf, die gerade dasjenige aufgenommen haben, was die entwickelten Völker nicht mehr aufnehmen konnten. 

Heute strebt nicht von irgendeinem Orte her, sondern von dem proletarischen Untergrunde der Menschheit strebt herauf eine Völkerwanderung. Das ist das Wichtige. Aber dieser Völkerwanderung muss entgegengekommen werden. 

Setzen Sie eine Hypothese. Denken Sie einmal: All das, was gewöhnlich in den Geschichtsbüchern durch die Völkerwanderung bezeichnet wird, all diese Wanderungen der Goten, der Hurinen, der Vandalen, der Sueven und so weiter, später der Mongolen, die gewöhnlich als Völkerwanderung geschildert werden, die hätten sich vollzogen, aber indem sich diese Völkerwanderungen vollzogen hätten in der Richtung von Osten nach Südwesten, wäre ihnen nicht entgegengekommen die Welle des Christentums. Nehmen wir an, diese Welle des Christentums wäre weggeblieben; denken Sie sich, wie anders die Welt geworden wäre! Sie können sich überhaupt die ganze spätere Zeit nur dadurch vorstellen, dass diese barbarischen Stämme herübergezogen sind aus dem Osten nach dem Südwesten und ihnen die christliche Welle entgegengekommen ist.

Heute ist die Sache so, dass aus den Tiefen heraufkommt das proletarische Element. Und heute muss diesem proletarischen Element entgegenkommen von oben ein Geistiges, ein geisteswissenschaftliches Ergreifen der sozialen Verhältnisse, der Weltanschauung überhaupt. Und derjenige, der nicht glauben will, dass es nötig ist, dass dieser Völkerwanderung, die heute nur nicht in waagrechter, sondern einfach in senkrechter Richtung vor sich geht, entgegenkommt eine neue geistige Offenbarung, der stehenbleiben will bei der alten, für die waagrechte Richtung geeigneten geistigen Offenbarung, kurz, wer stehenbleiben will bei der römischen Form der Christentumsverbreitung, wer nicht sich finden will durch die Sprache der Geisteswissenschaft zu der Ergreifung der neuen Offenbarung des durch das Mysterium von Golgatha gegangenen Christus, der versäumt das Allerwichtigste, was für die Gegenwart notwendig ist, der versäumt so viel, wie in dem Beginne des Mittelalters versäumt worden wäre, wenn der barbarischen Welle, die vom Osten nach dem Südwesten sich wälzte, nicht die Welle der Christentumsverbreitung entgegengekommen wäre. Auch damals standen zwischen der Welle des Christentums und der Welle der Barbaren alle diejenigen Menschen, die gerade die Gebildeten waren des Griechenreiches und des Römerreiches. Heute stehen zwischen der Welle, die als geistige Welle nach unten entgegendringen soll der nach oben gehenden proletarischen Welle, ja alle diejenigen, die an den alten Begriffen festhalten wollen unter der Führung der sogenannten Intelligenz und namentlich der auf diesem Gebiete ganz unfruchtbaren Wissenschaft. Das aber, wozu man es bringen muss, das ist vor allen Dingen Vorurteilslosigkeit für solche Begriffe, wie wir sie gestern und vorgestern hier entwickelt haben, welche einem die Möglichkeit geben, ein soziales Urteil zu bilden. Ein soziales Urteil bekommt man nicht, wenn man nicht den sozialen Organismus versteht. Wissen Sie, was das ist, das herauskommt, wenn heute so ein richtiger Durchschnittsprofessor der Volkswirtschaftslehre, dem dann die andern folgen, oder so ein richtiger politischer Führer über Volks- und soziale Zusammenhänge und so weiter spricht, wissen Sie, was da herauskommt in bezug auf den sozialen Organismus? Der soziale Homunkulus! Das ist dasjenige, was man endlich einsehen sollte, dass alle die Leute, die versucht haben, den sozialen Organismus ohne die Erkenntnis der Dreigliedrigkeit in Gedanken zu fassen, mit Bezug auf den sozialen Organismus bloß den Homunkulus herbeigeführt haben, wie Goethe meint, dass durch die gewöhnliche sinnliche und verstandesmäßige Auffassung man auch nur zum Homunkulus, nicht zum Homo kommt.

Denn sehen Sie, mit Bezug auf den sozialen Organismus können die meisten Menschen heute überhaupt noch nicht denken, weil ihnen die Leitmotive dieses Denkens fehlen. Ich habe es ja schon einmal erwähnt: Die Menschen gehen auf diesen Gebieten aus von der sonderbaren, grotesken Idee, dass ein einzelner Staat oder ein einzelnes Volksgebiet ein Organismus für sich sei. Sie wollen geradezu Volksorganismen errichten. Das ist an sich ein Unsinn. Ich habe es einmal ausgeführt: Wenn man etwas vergleichen will in bezug auf das Zusammenleben der Menschen über die Erde hin, so darf man nur die ganze Erde wie einen Organismus ansehen; ein einzelnes staatliches oder volksmäßiges Gebiet kann nur ein Glied sein im Organismus. Will man den Begriff des Organismus gebrauchen, so muss das ein abgeschlossener Organismus sein. Derjenige, welcher Nationalökonomie, Volkswirtschaftslehre, Sozialismus begründen will auf dem Gebiete eines einzelnen Landes, der gleicht einem Menschen, der, sagen wir, die Anatomie des ganzen Menschen aus der bloßen Hand oder dem Bein oder dem Magen begründen möchte. Darauf kommt es in viel höherem Maße an, als sich die Menschen heute vorstellen. Denn diese Dreigliederung, die ich Ihnen angeführt habe, die gibt nicht solche abstrakten Zusammenfassungen, wie sie die heutigen Menschen gewohnt sind, sondern die gibt gerade ein lebendiges Hineinstellen in das volkswirtschaftliche Getriebe, in das soziale Getriebe. Wer bloß gelernt hat die Anatomie des Magens, der wird nicht verstehen die Anatomie des Kopfes, des Halses. Wer aber die Anatomie des Menschen kennt, der wird, wenn es darauf ankommt, auch den Magen richtig beurteilen können, den Kopf richtig beurteilen, den Hals richtig beurteilen können. So ist es: Wer den sozialen Organismus in seinen inneren Lebensbedingungen – und das ist etwas, das ausgehen muss von dieser Dreigliederung – kennt, der weiß sich in die richtigen Verhältnisse zu setzen, ob er nun die sozialen Verhältnisse in Russland oder England oder in Deutschland oder irgendwo sonst zu beurteilen hat.

 

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Rudolf Steiner zur Völkerwanderung der „Ungebildeten, Unselbständigen, Abhängigen, Führerbedürftigen“  wurde am 22.01.2016 unter Soziale Frage veröffentlicht.

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