Vom Sich-Finden und Sich-Lösen 

 

von Stella Hagel 

 

Mit Erika verbindet mich ein gemeinsamer Weg. Sie kommt mit drei Jahren in den Kindergarten. Nach der ersten Eurythmie bittet mich die Kindergärtnerin, Erika vor der Eurythmie nicht mehr die Hand zur Begrüßung zu geben. Sie hätte sich nämlich zu Hause beschwert. „Die Frau Hagel mit den komischen Augen soll mich nicht anschauen!“ Ich bin etwas verunsichert, denn ich mache die Begrüßung niemals intensiv, sondern sehr spielerisch. Auch habe ich warme braune Augen und meines Erachtens keinen zu intensiven Blick. Die Kleine ist aber auch keineswegs ein zartes Elfchen. Ihre Augen gucken frech, blitzeblau und wach in die Welt und sie hat ein auffallend markantes, vorstehendes kleines Kinn. Trotzdem halte ich mich sehr zurück, sobald ich in Erikas Nähe komme, um sie nicht zu erschrecken. Eines Tages sitzen wir, alle Kinder, die Erzieherinnen und ich im Kindergarten um ein offenes Feuer herum und hören einem Märchen zu. Ich sitze auf einem Stuhl, Erika platziert sich zu meinen Füßen und schaut keck zu mir hoch. Etwas ängstlich verstecke ich meine gescholtenen Augen, sie aber versucht einen Blick von mir zu erhaschen und piekt mich sanft mit dem Fingerchen ins Bein. Ich reagiere nicht und denke: „Nachher schimpfst Du wieder über mich.“ Da fängt sie an, meine herabhängende Hand ganz zart zu streicheln, und da sie meint, ich würde das nicht merken, drückt sie noch ein Küsschen drauf. Ab diesem Tag kann ich sie ganz normal wie alle Kinder begrüßen. Der Bann ist gebrochen und sie macht auch sehr schön Eurythmie. 

Nach über einem Jahr der Harmonie fängt sie an, immer mal wieder etwas frech zu sein. Nach und nach merke ich, dass dies geschieht, weil ich ihr alles durchgehen lasse, da ich so erleichtert bin, dass sie mich überhaupt angenommen hat. Mit dieser Erkenntnis steige ich in die Arena und ein kleiner Kampf beginnt. Nach dem ersten Schlussstrich, den ich energisch unter einen Schabernack setze, kommt’s auch sofort: „Blöde Frau Hagel! Nächstes Mal komme ich nicht mehr in die Eurythmie.“ Aber nun lasse ich mich nicht mehr von ihr ins Bockshorn jagen. Eine Weile dauert unser Gerangel, dann schließen wir wieder Frieden. 

Bevor Erika – nun sechsjährig – den Kindergarten verlässt, fordert sie mich ein letztes Mal heraus. Wir haben nach der Eurythmie jeder ein Sternchen mit in den Gruppenraum gebracht – ein kleines „E“ wird mit gekreuzten Fingern über der Brust gebildet. Dieses soll jedem leuchten, damit es seinen Sternenthron – sein Stühlchen – auf dem es vor der Eurythmie gesessen hat, wiederfinden kann. Danach lösen wir den Stern und schenken ihn uns beim Aufwiedersehensagen gegenseitig. Danach verlasse ich den Raum. Ich habe den Kindern bereits den Rücken gedreht, da höre ich die sechsjährige Erika, die schon etwas aus der Kindergartenstimmung herausgewachsen ist, abfällig sagen: „Blödes Sternchen, ich brauch nicht so’n blödes Sternchen.“ Dass Erika dies so empfindet ist nicht schlimm, aber ich merke sofort an der Stimmung, und an einzelnen zustimmenden Kommentaren, dass die jüngeren Kinder angesteckt werden. Außerdem klang Erikas Stimme für mein Ohr recht provozierend. Ich fühle, so kann und will ich den Raum nicht verlassen und suche in mir einen guten Einfall. Um Zeit zu gewinnen, drehe ich mich erst einmal langsam wieder den Kindern zu und schaue plötzlich direkt in Erikas herausfordernd blitzende und strahlende Augen. Da fällt es mir ein: „Liebe Kinder, ich muss Euch was sagen. Die Erika hat gesagt, dass das Sternchen blöd ist, und dass sie es nicht mehr braucht. Aber ich sehe in ihren Augen, dass sie das gar nicht so gemeint hat. Und Ihr habt das jetzt alle geglaubt.“ Da ertönt Erikas triumphierende Stimme: „Ja! – Alle sind sie reingefallen!“ Und damit war die Luft wieder sternenrein. 


Vom Sich-Finden und Sich-Lösen  wurde am 12.06.2022 unter Ich bin ewig! veröffentlicht.

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