Ohne den Willen zum Denken ist aus dieser Sackgasse der anschauenden Sinneswahrnehmung nicht herauszukommen

 

von Ingo Hagel

 

Will man aus dieser weltanschaulichen Sackgasse, in der sich diese Gesellschaften befinden, herauskommen, dann muss man jedoch erst einmal – denken. Dem Gedanken (Idee, Geist) den Vorrang über die Sinnes-Anschauung (Wahrnehmung, Materie)  geben, das will Götz Werner nun gar nicht mit seiner „Uns-ist-es-egal“-Weltanschauung, die allerdings nichts als das Machertum einer rücksichtslosen Wirtschaft darstellt.

Für diesen naiven Realismus, der die weltanschauliche Grundlage für den heutigen Materialismus abgibt, steht die Anschauung, die Sinnes-Wahrnehmung, übermächtig in der Seele da. Das Denken dagegen ist nur der Hilfsarbeiter dieser Sinnes-Anschauung, mit Hilfe dessen man dieser so eine Art Informations-Zettelchen – Begriffe, mehr und mehr aber nur noch als Worte erlebt – anhängt, damit man besser miteinander kommunizieren und die heutige Wissenschaft und die darauf beruhende Technik entwickeln kann. Der heutige Mensch beobachtet die Dinge in der Welt, aber im Hintergrund seines naiven Bewusstseins rackert unbeobachtet und vergessen das Denken und wirft ab und zu ein paar Begriffs- oder Wortfetzen in dieses, das dann – wie Götz Werner – auch noch glaubt, diese wären aus dem Anschauen gebildet – und nicht aus dem Denken. Nun ist es ausgesprochen aufschlussreich, was Rudolf Steiner in seiner „Philosophie der Freiheit“ dazu sagt:

Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, dass der Denkende das Denken vergisst, während er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet. Die erste Beobachtung, die wir über das Denken machen, ist also die, dass es das unbeobachtete Element unseres gewöhnlichen Geisteslebens ist.   

Will man also über diesen naiven Realismus „unseres gewöhnlichen Geisteslebens“ hinauskommen, der das Denken vergisst, während er es ausgeübt, und der daher das Denken derart geringschätzen muss, wie Götz Werner es geringschätzt, so muss man versuchen, das Denken, das bisher nur ein unbeobachtetes Element des normalen Geisteslebens darstellte, in den Fokus der Aufmerksamkeit zu bekommen. Man muss also lernen, das Denken zu beobachten.

Hier stehen wir vor einer enormen Schwierigkeit, denn es kommen einem zwar vielleicht an der Sinneswahrnehmung noch ein paar Gedanken (aber auch das ist gefährlich im Abnehmen begriffen). Was jedoch wirkliches Denken darstellt, davon haben die Wenigsten in der heutigen Zeit eine Ahnung (aber woher sollten sie auch – derjenige, von dem sie es lernen könnten, wird ja nicht nur von der offiziellen Wissenschaft bis heute verachtet). Rudolf Steiner bemerkte dazu:

Man sollte nur nicht verwechseln: «Gedankenbilder haben» und Gedanken durch das Denken verarbeiten. Gedankenbilder können traumhaft, wie vage Eingebungen in der Seele auftreten. Ein Denken ist dieses nicht. – Allerdings könnte nun jemand sagen: wenn das Denken so gemeint ist, steckt das Wollen in dem Denken drinnen, und man habe es dann nicht bloß mit dem Denken, sondern auch mit dem Wollen des Denkens zu tun. Doch würde dies nur berechtigen zu sagen: das wirkliche Denken muss immer gewollt sein. Nur hat dies mit der Kennzeichnung des Denkens, wie sie in diesen Ausführungen gemacht ist, nichts zu schaffen. Mag es das Wesen des Denkens immerhin notwendig machen, dass dieses gewollt wird: es kommt darauf an, dass nichts gewollt wird, was, indem es sich vollzieht, vor dem «Ich» nicht restlos als seine eigene, von ihm überschaubare Tätigkeit erscheint. Man muss sogar sagen, wegen der hier geltend gemachten Wesenheit des Denkens erscheint dieses dem Beobachter als durch und durch gewollt.

Das empfinden die meisten Menschen doch als eine arge Zumutung: Nun soll man also nicht nur denken – wo doch „Anschauen“ so viel bequemer ist – sondern dazu noch willentlich denken, und schließlich auch noch etwas (Gedanken) beobachten, wo doch für Viele nichts ist. Aber es hilft alles nichts: Will man die Krankheiten der heutigen Zeit überwinden, so muss man genau dieses – Rudolf Steiner nannte es das reine Denken, das heißt ohne eine äußere Sinnesanschauung – versuchen – es wird dann irgendwann schon gelingen.

Anmerkung: Rudolf Steiner berichtet dazu aus einem Gespräch mit wohl dem größten Philosophen seiner Zeit, Eduard von Hartmann, der diese Möglichkeit eines Denken ohne eine äußere Anschauung dem Menschen absprach:

„Wenn ich in meiner «Philosophie der Freiheit» vom reinen Denken spreche, so war diese Bezeichnung für die damaligen Kultur Verhältnisse schon deplaciert; denn Eduard von Hartmann sagte mir einmal: «Das gibt es gar nicht; man kann nur an Hand der äußeren Anschauung denken!» Ich konnte ihm darauf nur antworten: «Man muss es probieren; man wird es dann schon lernen und zuletzt auch wirklich können.»

Diese Fähigkeiten eines reinen Denkens beziehungsweise einer Beobachtung des Denkens, das heißt

das Appellieren an das im Menschen, was noch tätig sein kann, wenn alle Sinne schweigen, und nur die Denktätigkeit dann in Regsamkeit ist

sind nun keine Spezialeigenschaften einer abgehobenen Philosophenschaft, sondern Rudolf Steiner schrieb (in seiner „Philosophie der Freiheit“, Nr. 4 der Gesamtausgabe), bei gutem Willen habe diese Fähigkeit heute jeder Mensch. Und: Diese Beobachtung des Denkens ist „die allerwichtigste“, die der Mensch machen kann – also noch wichtiger als die passive Ausführung des unbeobachteten Denkens über die Anschauung der Sinneswelt, und selbstverständlich noch wichtiger als das Anschauen der Sinneswelt:

Rudolf Steiner: Für jeden aber, der die Fähigkeit hat, das Denken zu beobachten – und bei gutem Willen hat sie jeder normal organisierte Mensch -, ist diese Beobachtung die allerwichtigste, die er machen kann. Denn er beobachtet etwas, dessen Hervorbringer er selbst ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet. Er durchschaut die Verhältnisse und Beziehungen. Es ist ein fester Punkt gewonnen, von dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen Welterscheinungen suchen kann.

Rudolf Steiner gibt dann in obigem Buch noch einen Hinweis, in welcher Richtung die Beobachtung des Denkens gesucht werden muss (Hervorhebung IH):

Es gehört eben zu der eigentümlichen Natur des Denkens, dass es eine Tätigkeit ist, die bloß auf den beobachteten Gegenstand gelenkt ist und nicht auf die denkende Persönlichkeit. Das spricht sich schon in der Art aus, wie wir unsere Gedanken über eine Sache zum Ausdruck bringen im Gegensatz zu unseren Gefühlen oder Willensakten. Wenn ich einen Gegenstand sehe und diesen als einen Tisch erkenne, werde ich im allgemeinen nicht sagen: ich denke über einen Tisch, sondern: dies ist ein Tisch. Wohl aber werde ich sagen: ich freue mich über den Tisch. Im ersteren Falle kommt es mir eben gar nicht darauf an, auszusprechen, dass ich zu dem Tisch in ein Verhältnis trete; in dem zweiten Falle handelt es sich aber gerade um dieses Verhältnis. Mit dem Ausspruch: ich denke über einen Tisch, trete ich bereits in den oben charakterisierten Ausnahmezustand ein, wo etwas zum Gegenstand der Beobachtung gemacht wird, was in unserer geistigen Tätigkeit immer mitenthalten ist, aber nicht als beobachtetes Objekt. Das ist die eigentümliche Natur des Denkens, dass der Denkende das Denken vergisst, während er es ausübt. Nicht das Denken beschäftigt ihn, sondern der Gegenstand des Denkens, den er beobachtet.

Man kann ausgehend von diesem Hinweis, der einem sehr deutlich die Richtung weist zu einer Beobachtung des Denkens, probieren und seine Erfahrungen machen.

 

Hier weiterlesen: 

Teil 1: Zu Götz Werners missverstandener Auffassung von Goethes Weltanschauung

Teil 2: Götz Werners kritische Stellung zur Naturwissenschaft hat in dieser Weise nichts mit Goethe zu tun

Teil 3: Die Anschauungsart Goethes und der Anthroposophie bejaht im vollen Sinne den Gesichtspunkt der naturwissenschaftlichen Forschung

Teil 4: Götz Werner übersieht die Grundbegriffe einer modernen Erkenntnis- und Wissenschafts-Praxis

Teil 5: Ohne den Willen zum Denken ist aus dieser Sackgasse der anschauenden Sinneswahrnehmung nicht herauszukommen

Teil 6: Selbst Schiller konnte Goethes Anschauung eines Ideellen nicht verstehen

Teil 7: Zur Bedeutung einer Beobachtung des Denkens für eine wirklichkeitsgemäße Erfassung der Welt

Teil 8: Viele meinen, Goethes Weltanschauung sei etwas total Überflüssiges 

Teil 9: Götz Werners verpasste eine große Chance, die Soziale Dreigliederung ins Bewusstsein der Menschen zu bringen

 

 

Hat Ihnen dieser Artikel etwas gegeben? Dann geben Sie doch etwas zurück und unterstützen Sie meine Arbeit hier auf Umkreis Online durch eine

Spende!

Das geht sehr einfach über einen Bankeinzug oder über PayPal.


Ohne den Willen zum Denken ist aus dieser Sackgasse der anschauenden Sinneswahrnehmung nicht herauszukommen wurde am 18.11.2014 unter Hide veröffentlicht.

Schlagworte: