Rudolf Steiner zum Streik – Der vernünftige Arbeiter wird nur gezwungenermaßen streiken wollen

 

von Rudolf Steiner

 

Anmerkung IH: Im Jahre 1919, als Rudolf Steiner diesen Vortrag vor Arbeitern der Daimler-Werke Stuttgart-Untertürkheim hielt, war das Wort „Proletarier“ (zum Beispiel für die in den Fabriken und Industrien arbeitenden Menschen) völlig normal. Heute gibt es diese Proletarier nicht mehr, sie sind aufgegangen in einer Schicht von Facharbeitern, Angestellten usw., denen nach dem 2. Weltkrieg aus bestimmten Gründen in weitem Maße einige Annehmlichkeiten der bürgerlichen Schicht zugestanden wurden – und die so über lange Zeit mit ihren sozialen Forderungen ruhiggestellt wurde. Mittlerweile entsteht jedoch zum Beispiel in dem hohen Anteil von ca. 23 Prozent Menschen in Niedriglohnbeschäftigungen eine neue Schicht von ausgebeuteten Menschen, die kaum eine Hoffnung auf ein lebenswertes Leben haben. Zusätzlich wird seitens des mit der Politik verfilzten Wirtschaftslebens versucht, durch juristische Tricks die Ansprüche nicht nur der einfachen Arbeiter (s. zum Beispiel hier) sondern auch höher qualifizierter und bessergestellter Gruppen (zum Beispiel der Piloten) zu torpedieren. Die Piloten sind daher nur als ein Beispiel eines Verteilungs- und Lohndrückungskampfes anzusehen, der immer weitere bisher gut gestellte Kreise der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft ergreifen wird. Dieser Kampf wird durch eine – mit dem Wirtschaftsleben verfilzte – Politik geführt, die die entsprechenden antisozialen Gesetze installiert. Er wird daher nur durch das menschenwürdig gelöst werden können, was Rudolf Steiner auch in dem hier angeführten Zitat als Soziale Dreigliederung erwähnt, nämlich die Trennung des Rechtslebens (Politik) vom Wirtschaftsleben in souveräne und selbstständige Glieder des sozialen Organismus; und dazu muss die Etablierung eines freien Geisteslebens kommen.

Rudolf Steiner: Erkennt man in richtiger Weise, dass der gesunde soziale Organismus ein dreigegliederter sein muss, dann wird man sehen: Auf dem Gebiet des Geisteslebens muss herrschen die Freiheit, weil gepflegt werden müssen Fähigkeiten, Talent, Begabung des Menschen in freier Weise. Auf dem Gebiet des Staates muss herrschen absolute Gleichheit, demokratische Gleichheit, denn im Staate lebt dasjenige, worin alle Menschen einander gleich sind. Im Wirtschaftsleben, das abgesondert sein soll von dem Staats- und Geistesleben, aber dem geliefert werden soll vom Staatsleben und vom Geistesleben die Kraft, muss herrschen Brüderlichkeit, Brüderlichkeit in großem Stile. Sie wird sich ergeben aus Assoziationen, aus Genossenschaften, die aus den Berufsgenossenschaften und aus jenen Gemeinschaften hervorgehen werden, die gebildet sind aus gesunder Konsumtion, zusammen mit gesunder Produktion. Da wird herrschen können im dreigeteilten Organismus Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Und verwirklicht wird werden können durch die neuere Sozialisierung dasjenige, was gesund denkende und gesund fühlende Menschen seit langer Zeit ersehnen. Man wird nur den Mut haben müssen, manches alte Parteiprogramm wie eine Mumie zu betrachten gegenüber den neuen Tatsachen. Man wird den Mut haben müssen dazu, sich zu gestehen: Neue Gedanken für neue Tatsachen, für die neuen Entwickelungsphasen der Menschheit sind notwendig. Und ich habe Erfahrungen bei allen Klassen gemacht in meinen Lebensbeobachtungen, die wahrhaftig Jahrzehnte umfassen, die entstanden sind aus einem Schicksal, das mich empfinden und denken gelehrt hat nicht über, sondern mit dem Proletariat, und ich habe daraus das Gefühl gewonnen, dass das Proletariat das gesunde ist, dass selbst dasjenige, was jetzt als eine Konsequenz aufgetreten ist der unzulässigen Verschmelzung des Wirtschaftslebens mit dem Staatsleben, dass das von dem Proletarier empfunden wird in der richtigen Weise. Derjenige, der mir heute zugehört hat, der wird wissen, dass ich es ehrlich meine mit den berechtigten Forderungen des modernen Proletariats, die historische Forderungen sind. Aber ich weiß auch, dass letzten Endes über alles dasjenige, was Streik ist, der vernünftige Proletarier so denkt, wie der vernünftige Mensch überhaupt. Ich weiß, der vernünftige Arbeiter streikt nicht um des Streikes willen, er streikt nur, weil die Wirtschaftsordnung es dahin gebracht hat, dass politische Forderungen verquickt sind mit wirtschaftlichen Forderungen. Erst dann wird das Wirtschaftsleben völlig in vernünftige Bahnen gebracht werden können, wenn diese Trennung des politischen Lebens von dem wirtschaftlichen Leben eingetreten sein wird. Auch darüber würden wir uns, besonders wenn wir Gelegenheit hätten, genauer darüber zu sprechen, verstehen. Wir würden verstehen gegenüber jedem Streik: er könnte unterlassen werden; der vernünftige Arbeiter, er wird ihn nur gezwungen unternehmen wollen. Das ist auch etwas, was zur gesunden Sozialisierung gehört, dass wir hinauskommen über dasjenige, was wir eigentlich nicht tun wollen, was unvernünftig ist zu tun. Dazu hat selbst die moderne Wirtschaftsordnung es gebracht, dass Ungewolltes, dass als unvernünftig Angesehenes, oftmals vollbracht wird. 

Aus Nr. 330 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Seite: 102f