Alle Fenster zu?

 

von Stella Hagel  

 

Alle Fenster zu? 

Im Kindergarten ist eine ganz neue Kindergruppe entstanden. Im Gegensatz zu der bereits langjährig bestehenden Gruppe sind hier die Kinder alle ungefähr im gleichen Alter, zwischen drei und vier Jahren. In gemischten Kindergruppen werden die ganz Kleinen immer von den Älteren, welche die Eurythmie schon kennen, mitgezogen. Hier aber ist sie für alle neu. Äußerst behutsam versuche ich, die Eurythmie an sie heranzubringen. Mit großen Augen staunen die Kleinen mich an. Einige von ihnen ahmen sofort alles nach, was ich vormache, andere ziehen erst allmählich nach. Erst eurythmisieren wir etwas im Sitzen, später fliegen wir als Vöglein im Raum umher. Außer drei kleinen Buben fliegen alle vergnügt mit, und wir können unsere Geschichte zuende führen, bevor wir wieder in den Stuhlkreis zurückkehren. 

Drei kleine Buben, ein Zwillingspärchen und deren Freund, welche sitzengeblieben waren, hatten sich die Zeit mit sonderbarem Tun vertrieben. Aus ihren Hosentaschen hatten sie etliche Papiertaschentücher zu Tage befördert, sie in kleine Stücke zerrissen und waren nun emsig beschäftigt, sich damit alle Löcher zu verstopfen, welche sie in ihren Gesichtchen fanden. Sie stopften sich beide Nasenlöcher zu, röchelten durch den Mund, und große Papierfetzen hingen aus ihren Ohren heraus. 

Ziemlich betroffen von diesem Anblick überlege ich sofort, ob die Eurythmie oder das Auftreten meiner Person zu stark auf die Kinder gewirkt haben könnte, dass sie sich derart verstopfen müssen. Ich schlage den drei Buben freundlich vor, die Taschentücher wieder zurück in ihre Hosentaschen zu stopfen. „Dort“, so versuche ich sie zu überreden, „ist doch viel mehr Platz.“ Sie aber stopfen sich verbissen weiter die Nasenlöcher zu. Da übernimmt Anna, dreieinhalb altklug das Wort: „Frau Hagel, jetzt geh Du mal wieder nach Hause.“ Erstaunt und fragend schaue ich sie an. „Ja, geh Du jetzt mal nach Hause“, bekräftigt sie. „Dann brauchst Du Dir auch nicht mit anzusehen, wo die sich die Sachen hinstopfen.“ 

 

Früh übt sich, wer ein Meister werden will 

Anna-Jumi, fast drei Jahre alt, hat einen großen Roller von Freunden geschenkt bekommen. Unermüdlich übt sie nun auf dem Hof das große Fahrzeug in den Griff zu bekommen. Immer jedoch muss zunächst ein Erwachsener hinter ihr herlaufen, oder besser gesagt „rennlaufen“. Das ist ihr ganz wichtig. 

Nach einer Weile emsigen Übens versucht sie schon beide Füßchen gleichzeitig auf das Trittbrett zu stellen, fällt natürlich erst einmal mit dem Roller um und vergießt ein paar Tränen. Doch aufgeben tut sie keineswegs. Tapfer steht sie wieder auf und übt unverdrossen weiter. Nach kurzer Zeit gelingt es ihr tatsächlich, ein kleines Stückchen mit beiden Füßen auf dem Trittbrett stehend zu fahren und dann geschickt abzuspringen, ohne umzufallen. Noch stellt Anna-Jumi ihre Füßchen leicht schräg auf das Trittbrett, spürt aber, dass sie dadurch nicht so gut das Gleichgewicht halten kann. Nun versucht sie, mit den Füßchen auf dem Trittbrett tastend die Mitte herauszubekommen, und als ihr das gelingt, kann sie schon ein viel größeres Stück fahren, ohne halten zu müssen. Daraufhin bricht aus ihr die helle Freude heraus. Laut ruft sie: „Jetzt kann ich es! Jetzt kann ich es wie die Großen! Jetzt bin ich schon fast erwachsen!“ 

 

  


Alle Fenster zu? wurde am 12.06.2022 unter Ich bin ewig! veröffentlicht.

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