Rudolf Steiner zu Goethe, der den Materialismus hasste bis zum Exzess

 

Aus Nr. 39 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 43:

Rudolf Steiner schrieb am 30. November 1890 an Rosa Mayreder:

…  

Wenn Sie, verehrteste gnädige Frau, sagen, dass der Materialismus lange im stillen fortgewirkt hat und sogar Früchte gezeitigt hat, so frage ich Sie, wo sind diese Früchte? Hat der auf sich selbst gestützte Materialismus wissenschaftliche oder künstlerische Epochen der Menschheit auf die Oberfläche gebracht? Sind nicht die materialistischen Epochen in der Geschichte immer die unfruchtbarsten gewesen? Bezeichnen Plato und Aristoteles oder bezeichnet Demokrit die Blüte griechischer Weisheit? Hat Goethe, der den Materialismus hasste bis zum Exzess, oder hat Holbach die altgewordene Menschheit des achtzehnten Jahrhunderts neu verjüngt? Sie sagen: «Macht uns nicht die Gewissheit, dass es wieder Tag werden wird, auch die Nacht zur Freundin?» Ich bestreite die Richtigkeit dieses Vergleiches. Der Materialismus verhält sich nicht zum Idealismus wie die Nacht zum Tag. Ich möchte die metaphorische Frage anders stellen: Muss ich, um einzusehen, dass ein Winterrock vorteilhaft ist, mich eine Stunde einer eisigen Kälte aussetzen? Sie sagen im weiteren Verlaufe Ihres Briefes: «So bestätige ich selbst, was ich doch gerne leugnen möchte: dort, wo man tätig, wirkend, mächtig sein will, darf man nicht objektiv sein. Ich komme immer mehr zur Einsicht, dass das Streben nach Objektivität im Indifferentismus endigt und dass schließlich die Reflexion das Handeln unmöglich macht.» Ich kann das nicht zugeben, weil die Objektivität der Betrachtung, die Handlung dem Willen angehört. Wenn ich in irgendeiner Weise handelnd in die Weltordnung eingreife, so ist mein Handeln etwas ganz Bestimmtes, Individualisiertes, das von partiellen Bestimmungen des Weltprozesses abhängt und nicht von den allgemeinen, unbedingten, die der Betrachtung zur Grundlage dienen. Ich kann ganz gut einsehen, dass irgendeine Handlung – und es gilt dies von jeder Handlung – unvollkommen ist, wenn ich sie im Zusammenhang mit den höchsten Prinzipien des Daseins betrachte, dennoch aber kann mir klar sein, dass ich nach den individualisierten Voraussetzungen nur diese Handlung und diese nur so vollbringen kann. Dies beeinträchtigt meine Freiheit gar nicht. Wenn ich handle, gehen mich die allgemeinen Prinzipien des Wissens gar nichts an, sondern nur die Antezedenzien meines Handelns. Diese Prinzipien verhalten sich zu meinem Handeln so wie die Gesetze des Verdauungsprozesses zu diesem letzteren selbst. Niemand kann nach physiologischen Gesetzen verdauen, wenn er sie auch bis ins kleinste hinein kennte. Wir müssen die Bestimmungsgründe unseres Willens streng von den Prinzipien der Ethik trennen. Ich gebe zu – dass es sehr schwer ist, diese beiden Dinge auseinanderzuhalten.  … 

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