Rudolf Steiner: Wie setze ich mich in Verbindung mit dem Christus?

 

GA 169 S. 43 

Den Ausgleich findet man dadurch, daß man in der richtigen Art sich vereinigen kann mit demjenigen, was als das Christus-Wesen die Erde durchpulst seit dem Mysterium von Golgatha. Jede Empfindung, jedes Erlebnis, das wir haben können in Anknüpfung an dieses Mysterium von Golgatha, trägt zum Ausgleich bei. Die Menschen sind heute noch nicht sehr weit in bezug auf diese Ausgleichung, aber das Streben muß dahin gehen. Wir selbst in unserem Kreise finden sehr häufig, wie der charakterisierte Gegensatz nach der einen oder nach der anderen Richtung sich ausprägt. Viele sind unter uns, die hören sich die Lehren der Anthroposophie an und nehmen sie wie eine äußere Wissenschaft, so daß sich in den Köpfen von vielen Anthroposophie gewissermaßen nicht unterscheidet von äußerer Wissenschaft. Aber Anthroposophie ist erst dann in richtigem Sinn verstanden, wenn sie nicht bloß mit dem Kopf aufgefaßt wird, sondern wenn sie uns in jeder ihrer Äußerungen Enthusiasmus gibt, wenn sie in uns so lebt, daß sie den Übergang findet von Nervensystem zu Blutsystem. Wenn wir uns erwärmen können für die Wahrheiten, die in der Anthroposophie enthalten sind, dann erst verstehen wir sie. 

Solange wir sie bloß abstrakt fassen, indem wir sie gewissermaßen studieren wie ein Einmaleins, ein Rechenbuch, ein Dienstreglement oder ein Kochbuch, so lange verstehen wir sie nicht. Ebensowenig verstehen wir sie, wenn wir diese Anthroposophie studieren wie die Chemie oder wie die Botanik. Wir verstehen sie erst, wenn sie uns warm macht, wenn sie uns erfüllt mit dem Leben, das in ihr waltet. Der Christus hat einmal gesagt: «Ich bin bei euch bis ans Ende der Erdentage.» Und er ist nicht bloß als ein Toter, er ist als ein Lebender unter uns und er offenbart sich immer. Und nur diejenigen, die so kurzsichtig sind, daß sie sich vor diesen Offenbarungen fürchten, sagen, man solle bei dem bleiben, was immer gegolten hat. Diejenigen aber, die nicht feige sind, wissen, daß der Christus sich immer offenbart. Deshalb dürfen wir dasjenige, was er als Anthroposophie offenbart, als eine wirkliche Christus-Offenbarung aufnehmen. – Oft, meine lieben Freunde, werde ich gefragt von unseren Mitgliedern: Wie setze ich mich in Verbindung mit dem Christus? – Es ist eine naive Frage! Denn alles, was wir anstreben können, jede Zeile, die wir lesen aus unserer anthroposophischen Wissenschaft, ist ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu dem Christus. Wir tun gewissermaßen gar nichts anderes. Und derjenige, der nebenbei noch ein besonderes Sich-in-Beziehung-Setzen sucht, der drückt nur naiv aus, daß er eigentlich vermeiden möchte den etwas unbequemen Weg, etwas zu studieren oder etwas zu lesen. 

Aber noch etwas anderes können Sie sehen aus dieser Betrachtung. Diese Betrachtung hat begonnen, ich möchte sagen, wie ganz äußerlich-wissenschaftlich, wie anatomisch-physiologisch. Von der stofflichen Betrachtung des Menschen sind wir ausgegangen, und den Übergang finden wir nun zu der höchsten Erkenntnis, die sich dem Menschen auf Erden bieten kann: zu der Christologie. Diesen Übergang kann Ihnen keine andere Wissenschaft geben. Die Geisteswissenschaft zeigt Ihnen, wie unsere Nervensubstanz etwas verloren hat dadurch, daß sie irdische Substanz geworden ist. Wo aber ist das, was unsere Nervensubstanz verloren hat? Als Jesus von Nazareth dreißig Jahre alt war, zog Christus in den Leib des Jesus von Nazareth und ging durch das Mysterium von Golgatha! Versuchen Sie nur einmal, sich so recht zu durchwärmen mit diesem Gedanken. Dasjenige, was, weil wir Erdenmenschen sind, unserem Nervensystem fehlt, was nur ausgefüllt ist durch Ahrimanisches, das tritt uns da entgegen im Mysterium von Golgatha, und unsere Menschenaufgabe ist es, es ins Blut aufzunehmen, um das Luziferische zu durchchristen im Blute, unseren Enthusiasmus so zu gestalten, daß es in uns lebt. Denn alles dasjenige, was wir in abstrakten Gedanken denken können, ist gebunden an Nervensubstanz, alles dasjenige, was in uns lebt als Gefühl, als Gemüt, als Enthusiasmus, als Stimmung, ist gebunden ans Blut. So, wie im Organismus die Beziehung ist zwischen Nervensubstanz und Blutsubstanz, so ist in der Seele die Beziehung zwischen dem Denken, das in Abstraktionen, in kalten Gedanken, wie man sagt, verläuft, und dem Enthusiasmus, in den wir versetzt werden können, wenn die Dinge für uns nicht kalte Gedanken bleiben, wenn wir warm gemacht werden können durch den Geist, wozu wir uns ja allerdings im Leben erst erziehen müssen.