Goethe zu Eckermann: Gedanken und Anschauungen interessieren die Leuten nicht. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben

 

Dienstag, den 16. Dezember 1828:

Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, dass wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige gefunden und gesagt; aber dass ich es auch fand, dass ich es wieder sagte und dass ich dafür strebte, in einer konfusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst.

Und denn, man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder geprediget wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.

Oft lehret man auch Wahrheit und Irrtum zugleich, und hält sich an letzteren. So las ich vor einigen Tagen in einer englischen Enzyklopädie die Lehre von der Entstehung des Blauen. Obenan stand die wahre Ansicht von Leonardo da Vinci; mit der größten Ruhe aber folgte zugleich der Newtonische Irrtum, und zwar mit dem Bemerken, dass man sich an diesen zu halten habe, weil er das allgemein Angenommene sei.«

Ich musste mich lachend verwundern, als ich dieses hörte. »Jede Wachskerze,« sagte ich, »jeder erleuchtete Küchenrauch, der etwas Dunkeles hinter sich hat, jeder duftige Morgennebel, wenn er vor schattigen Stellen liegt, überzeugen mich täglich von der Entstehung der blauen Farbe und lehren mich die Bläue des Himmels begreifen. Was aber die Newtonischen Schüler sich dabei denken mögen, dass die Luft die Eigenschaft besitze, alle übrigen Farben zu verschlucken und nur die blaue zurückzuwerfen, dieses ist mir völlig unbegreiflich, und ich sehe nicht ein, welchen Nutzen und welche Freude man an einer Lehre haben kann, wobei jeder Gedanke völlig stille steht und jede gesunde Anschauung durchaus verschwindet.«

»Gute Seele,« sagte Goethe, »um Gedanken und Anschauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu tun. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben, womit sie verkehren, welches schon mein Mephistopheles gewusst und nicht übel ausgesprochen hat:

Vor allem haltet euch an Worte!
Dann geht ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewissheit ein;
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.«

Goethe rezitierte diese Stelle lachend und schien überall in der besten Laune. »Es ist nur gut«, sagte er, »dass schon alles gedruckt steht; und so will ich fortfahren, ferner drucken zu lassen, was ich gegen falsche Lehren und deren Verbreiter noch auf dem Herzen habe.

Treffliche Menschen«, fuhr er nach einer Pause fort, »kommen jetzt in den Naturwissenschaften heran, und ich sehe ihnen mit Freuden zu. Andere fangen gut an, aber sie halten sich nicht; ihr vorwaltendes Subjektive führt sie in die Irre. Wiederum andere halten zu sehr auf Fakta und sammeln deren zu einer Unzahl, wodurch nichts bewiesen wird. Im ganzen fehlt der theoretische Geist, der fähig wäre, zu Urphänomenen durchzudringen und der einzelnen Erscheinungen Herr zu werden.« 

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Goethe zu Eckermann: Gedanken und Anschauungen interessieren die Leuten nicht. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben wurde am 26.06.2017 unter Hide veröffentlicht.

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