Rudolf Steiner zu Nietzsches von allen Normen befreitem Menschen

 

aus Nr. 30 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 151 (Hervorhebung IH):

Im vorigen und dem größten Teile unseres Jahrhunderts war das Denken bemüht, dem Ich seine Stellung im Weltganzen zu erobern. Geister, welche dieser Tendenz bereits fremd gegenüberstehen, sind Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann, der noch rüstig unter uns Wirkende. Beide haben nicht mehr das volle Wesen unseres Ich, das wir in unserem Bewusstsein vorfinden, als Urweltwesen in die Außenwelt verlegt. Schopenhauer hat einen Teil dieses Ich, den Willen als Weltwesen angesehen, und Hartmann sieht das Unbewusste als solches an. Beiden gemeinsam ist dies Streben, das Ich dem von ihnen angenommenen allgemeinen Weltwesen unterzuordnen. Dagegen ist als letzter der strengen Individualisten noch Friedrich Nietzsche von Schopenhauer ausgehend zu Anschauungen gelangt, welche durchaus auf dem Wege der absoluten Würdigung des einzelnen Ich führen. Seiner Meinung nach besteht die echte Kultur darinnen, den Einzelnen zu pflegen, damit er die Kraft habe, aus sich heraus alles das zu entwickeln, was in ihm gelegen ist. Bisher war es nur ein Zufall, wenn ein Einzelner sich voll aus sich heraus hat entwickeln können. «Dieser höherwertigere Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; – und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht; das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, – der Christ…». Seinen Typus Mensch als Ideal hat Nietzsche poetisch verklärt in seinem Zarathustra. Er nennt ihn den Übermenschen. Dieser ist der von allen Normen befreite Mensch, der nicht mehr Ebenbild Gottes, Gott wohlgefälliges Wesen, guter Bürger und so weiter, sondern er selber und nichts weiter sein will – der reine und absolute Egoist. 

Anmerkung IH: Zum Titel dieses Artikels von Rudolf Steiner „Der Individualismus in der Philosophie“ beziehungsweise zu dem in der GA 30 abgedruckten Wort „Egoist“:

der reine und absolute Egoist,

welches in der heutigen philosophisch nicht geschulten Zeit eigentlich – um weniger Missverständnisse zu erregen – heißen müsste

der reine und absolute Individualist,

siehe auch hier (aus Nr. 30 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 607):

Der Individualismus in der Philosophie: Vollständiger Titel: „Der Individualismus in der Philosophie. Ein Überblick über die abendländische Philosophie seit Thales“. Der Aufsatz erschien zuerst im Sammelwerk „Der Egoismus“, hg. von Arthur Dix, Leipzig 1899, unter dem Titel: „Der Egoismus in der Philosophie“. Rudolf Steiner sagt dazu in „Mein Lebensgang“ (1923-25), GA 28, Kap. XXXI: 

„Mir fiel für dieses Buch die Darstellung des Egoismus in der Philosophie zu. Nun trägt mein Aufsatz diese Überschrift nur deshalb, weil der Gesamttitel des Buches dies forderte. Diese Überschrift müsste eigentlich sein: „Der Individualismus in der Philosophie“ Dix schreibt selbst (S. 341), dass es „Aufgabe unseres Werkes“ war, „… auch den reinen Individualismus zu Worte kommen zu lassen.“ 

Vgl. auch Rudolf Steiners Werk „Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt“ (1914), GA 18. 

 

 

 

 

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