Rudolf Steiner: Das im Nichts Ruhen während des Schlafes macht den Menschen der modernen Zeit eigentlich frei.

(GA 221 S. 34) 

Der alte Hellseher, der noch von der alten Welt wahrnahm, nicht von der Zukunftswelt, der von der alten Welt wahrnahm, der konnte kein völlig freier Mensch werden, denn er wurde abhängig in diesem Wahrnehmen. Das im Nichts Ruhen während des Schlafes macht den modernen Menschen, den Menschen der modernen Zeit eigentlich frei. So sind zwei Gegenbilder vorhanden für den modernen Menschen. Erstens lebt er während des Wachens im Gedanken, der ein bloßer Gedanke ist, der nicht mehr Bilder enthält im alten Sinne; die hält er, wie gesagt, für Mythologie. Und er lebt während des Schlafes in der Nichtigkeit. Dadurch befreit er sich von der Welt, dadurch erringt er sich das Bewußtsein der Freiheit. Die Gedankenbilder können ihn nicht zwingen, weil sie bloße Bilder sind. Geradesowenig wie die Spiegelbilder zwingen können, irgend etwas verursachen können, geradesowenig können die Gedankenbilder von den Dingen den Menschen zu etwas zwingen. Wenn daher der Mensch seine moralischen Impulse in reinen Gedanken ergreift, so muß er sie als ein freies Wesen befolgen. Keine Emotion, keine Leidenschaft, kein innerlich körperlicher Vorgang kann ihn veranlassen, jenen moralischen Impulsen zu folgen, die er in reinen Gedanken zu erfassen in der Lage ist. Aber er ist auch imstande, diesen bloßen Bildern in Gedanken zu folgen, diesem reinen Gedanken zu folgen, weil er sich während des Schlafes, befreit von allen Naturgesetzen in seinem eigenen Körperlichen, findet, weil er wirklich während des Schlafes eine reine freie Seele wird, die dem Nichtwirklichen des Gedankens folgen kann; während der ältere Mensch auch während des Schlafes abhängig blieb von der Welt und daher nicht hätte folgen können unwirklichen Impulsen. 

Fassen wir das zunächst ins Auge, daß der moderne Mensch dieses Zweierlei hat: reine Gedanken haben kann, die rein intellektualistisch konzipiert sind, und einen in der Nichtigkeit zugebrachten Schlaf, wo er drinnen ist, wo er ein Wirkliches ist, aber wo seine Umgebung ihm ein Nichtiges zeigt. Denn nun kommt das Wesentliche. Sehen Sie, es ist nun auch einmal in der Natur des modernen Menschen begründet, daß er durch alles das, was er da durchgemacht hat, innerlich willensschwach geworden ist. Das will der moderne Mensch gar nicht wahr haben, aber es ist so: Der moderne Mensch ist innerlich willensschwach geworden. Wenn man nur wollte, würde man das auch geschichtlich begreifen können. Man soll nur einmal hinschauen auf mächtige geistige Bewegungen, die sich früher ausgebreitet haben, mit welchen Willensimpulsen zuweilen, sagen wir, Religionsstifter durch die Welt gewirkt haben. Diese innerliche Willensimpulsivität ist der modernen Menschheit verlorengegangen. Und deshalb läßt sich der moderne Mensch zu seinen Gedanken von der Außenwelt erziehen. Er betrachtet die Natur, bildet an den Naturvorgängen und Naturwesen seine bloßen intellektualistischen Gedanken aus, wie wenn sein Inneres wirklich nur ein Spiegel wäre, der alles spiegelt. Ja, der Mensch ist schon so schwach geworden, daß er eine heillose Angst bekommt, wenn irgendeiner Gedanken aus sich produziert, wenn er Gedanken nicht bloß abliest an demjenigen, was die äußere Natur darbietet. So daß sich zunächst das reine Denken in ganz passiver Weise in dem modernen Menschen entwickelt hat. 

Ich sage das nicht als Tadel; denn wäre die Menschheit gleich übergegangen zu einem aktiven Produzieren des reinen Denkens, dann hätte sie von der alten Erbschaft allerlei unreinliche Phantastereien in dieses Denken hineingebracht. Es war schon ein gutes Erziehungsmittel für die moderne Menschheit, daß sich die Leute von den grandiosen Philistern, wie etwa dem Bacon von Verulam, dazu verleiten ließen, verführen ließen, ihre Begriffe und Ideen nur an der Außenwelt zu entwickeln, nur sich alles diktieren zu lassen von der Außenwelt. Und so sind die Menschen nach und nach gewöhnt worden, nicht in ihren Begriffen und Ideen, in ihrem Denken selbst zu leben, sondern sich das Denken von der Außenwelt geben zu lassen. Einige bekommen das direkt, die die Natur beobachten, oder die die geschichtlichen Dokumente betrachten. Sie verschaffen sich direkt Gedanken über die Natur, über die Geschichte. Die leben dann in ihnen. Andere bekommen es nur durch die Schule. Die Menschen werden ja heute schon vom frühesten Kindesalter an durch die Schule mit solchen Begriffen traktiert, die auf passive Weise an der Außenwelt gewonnen sind. 

In dieser Beziehung ist der moderne Mensch eigentlich eine Art Sack, nur daß er die Öffnung auf der Seite hat. Da nimmt er alles auf aus der äußeren Natur und spiegelt es in seinem Inneren. Das sind dann seine Ideen. Eigentlich ist seine Seele nur ausgefüllt mit Naturbegriffen. Er ist ein Sack. Wenn der moderne Mensch prüfen würde, wo er seine Begriffe her hat, so würde er schon darauf kommen. Manche haben es auf direkte Weise, jene, die einmal wirklich die Natur beobachten auf dem oder jenem Gebiete, die meisten haben es aber überhaupt in der Schule aufgenommen, ihre Begriffe sind ihnen eingepflanzt worden. 

Durch Jahrhunderte, seit dem 15. Jahrhundert, ist der Mensch in dieser Passivität der Begriffe erzogen. Und heute betrachtet et schon das wie eine Art von Sünde, wenn er innerlich tätig ist, sich seine Gedanken selber macht. Ja, die Naturgedanken kann man nicht selber machen. Man würde die Natur nur verunreinigen durch allerlei Phantastereien, wenn man die Naturgedanken selber machte. Aber man hat in sich den Quell des Denkens. Man kann eigene Gedanken machen, ja man kann die Gedanken, die man schon hat, weil sie ja eigentlich eben bloße Gedanken sind, mit innerlicher Wirklichkeit durchdringen. Wann geschieht das? Das geschieht dann, wenn der Mensch so viel Willen aufbringt, daß er wiederum seinen Nachtmenschen in das Tagleben hineinschiebt, daß er nicht bloß passiv denkt, sondern seinen während des Schlafes unabhängig gewordenen Menschen in seine Gedanken hineinschiebt. Das kann man nur mit den reinen Gedanken. 

Eigentlich ist das der Grundgedanke meiner «Philosophie der Freiheit» gewesen, daß ich aufmerksam darauf gemacht habe: In das Denken, das sich der moderne Mensch erworben hat, kann er sein Ich-Wesen wirklich hineinschieben. Jenes Ich-Wesen, das er – ich konnte es dazumal noch nicht aussprechen, aber es ist so – während des Schlafzustandes in der modernen Zeit freikriegt, das kann er hineinschieben in das reine Denken. Und so wird der Mensch seines Ich-Wesens sich wirklich bewußt im reinen Denken, wenn er so die Gedanken faßt, daß er aktiv, tätig in ihnen lebt. 

Nun ist damit etwas anderes verknüpft. Nehmen wir an, es wird nach dem Muster der modernen Naturwissenschaft Anthroposophie vorgetragen. Die Menschen nehmen Anthroposophie auf, nehmen sie zunächst so auf, wie der moderne Mensch es gewöhnt ist, nach Art des passiven Denkens. Man kann sie ja verstehen, wenn der Menschenverstand nur gesund ist, man braucht nicht einen bloßen Glauben anzuwenden. Wenn der Menschenverstand bloß gesund ist, kann man die Gedanken verstehen. Aber man lebt dennoch passiv in ihnen, wie man in den äußeren Naturgedanken passiv lebt. Dann kommt man und sagt: Ja, ich habe diese Gedanken von anthroposophischer Forschung her, ich kann aber selbst nicht für sie eintreten, denn ich habe sie bloß aufgenommen – wie es manchem heute zu sagen beliebt: Ich habe sie aufgenommen von geisteswissenschaftlicher Seite. – Wir hören das ja so oftmals betonen: die Naturwissenschaft sagt das, und wir hören dann das oder jenes von geisteswissenschaftlicher Seite. Was bezeugt das, wenn jemand sagt, ich höre das von geisteswissenschaftlicher Seite her? Das heißt, er weist darauf hin, daß er im passiven Denken verharrt, daß er auch die Geisteswissenschaft nur im passiven Denken aufnehmen will. Denn in dem Momente, wo er sich entschließt, die Gedanken, die ihm die anthroposophische Forschung überliefert, selbst in sich zu erzeugen, wird er auch imstande, mit seiner ganzen Persönlichkeit für ihre Wahrheit einzutreten, denn er erlebt dadurch die erste Stufe ihrer Wahrheit. 

Mit anderen Worten: der Mensch ist im allgemeinen heute noch nicht dazu gekommen, die Realität, die er als unabhängige Realität im Schlafe erlebt, während des Wachlebens durch Willensstärke hineinzugießen in die Gedanken des Wachlebens. Wenn man Anthroposoph werden will in der Art, daß man die anthroposophischen Gedanken aufnimmt und dann nicht einfach passiv sich ihnen hingibt, sondern durch einen starken Willen dasjenige, was man während jeder Nacht im traumlosen Schlafe ist, hineingießt in die Gedanken, in die reinen Gedanken der Anthroposophie, dann hat man die erste Stufe desjenigen erklommen, was man heute berechtigt ist, Hellsehen zu nennen, dann lebt man hellsichtig in den Gedanken der Anthroposophie. Man lese ein Buch mit dem starken Willen, daß man nicht nur sein Tagleben in das anthroposophische Buch hineinträgt, daß man nicht so liest: vorgestern ein Stück, dann hört es auf, gestern, dann hört es auf, heute, dann hört es auf usw. Die Menschen lesen heute nur mit einem ihrer Lebensstücke, nämlich nur mit dem Tagesleben. So kann man ja natürlich Gustav Freytag lesen, so kann man auch Dickens lesen, Emerson kann man so lesen, aber nicht ein anthroposophisches Buch. Wenn man ein anthroposophisches Buch liest, muß man mit seinem ganzen Menschen hinein, und weil man im Schlafe bewußtlos ist, also keine Gedanken hat – aber der Wille dauert fort – muß man mit dem Willen hinein. Wollen Sie dasjenige, was in den Worten eines wirklichen anthroposophischen Buches liegt, so werden Sie durch dieses Wollen wenigstens gedankenhaft unmittelbar hellsichtig. Und sehen Sie, dieser Wille, der muß noch hinein in diejenigen, die unsere Anthroposophie vertreten! Wenn dieser Wille hineinfährt wie ein Blitz in diejenigen, die unsere Anthroposophie vertreten, dann wird die Anthroposophie vor der Welt in der richtigen Weise vertreten werden können. Nicht irgendwelcher Zauberkünste bedarf es dazu, sondern des energischen Wollens, das nicht nur die Lebensstücke während des Tages hineinträgt in ein Buch. Heute lesen ja die Leute übrigens nicht einmal mehr mit diesem vollständigen Lebensstück Werke, sondern heute bei der Zeitungslektüre genügt es, wenn man ein paar Tagesminuten rege macht, um sich anzueignen, was man da hat. Da braucht man nicht einmal den ganzen wachen Tag. Wenn man aber mit seinem ganzen Menschen untertaucht in ein Buch, das aus der Anthroposophie entstammt, dann wird es in einem lebendig. 

Das ist aber dasjenige, was beachtet werden sollte, namentlich von jenen, die führende Persönlichkeiten sein sollen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Denn dieser Anthroposophischen Gesellschaft schadet es ungeheuer, wenn gesagt wird: Ja, die Anthroposophie wird verkündet von Menschen, die nicht für sie eintreten können. – Wir müssen eben dazu kommen, zu dem bloßen passiven intellektualistischen Erleben der anthroposophischen Wahrheiten das Aufgehen mit unserem ganzen Menschen in diesen anthroposophischen Wahrheiten zu finden. Dann wird dasjenige, was anthroposophische Verkündigung ist, nicht in der lendenlahmen Weise auftreten, daß man immer nur sagt: Von geisteswissenschaftlicher Seite wird uns versichert – sondern dann wird man die anthroposophische Wahrheit als sein eigenes Erleben verkündigen können, wenigstens zunächst für das, was dem Menschen am allernächsten liegt, zum Beispiel für das medizinische Gebiet, für das physiologische Gebiet, für das biologische Gebiet, für das Gebiet der äußeren Wissenschaften oder des äußeren sozialen Lebens. Wenn auch nicht die Gebiete der höheren Hierarchien auf dieser ersten Stufe des Hellsehens zugänglich werden, aber das, was als Geist In unserer unmittelbaren Umgebung ist, das kann auf diese Weise auch wirklich Gegenstand der menschlichen Seelenverfassung der Gegenwart sein. Und vom Willen hängt es ab im umfassendsten Sinne, ob in unserer Anthroposophischen Gesellschaft Menschen auftreten, die Zeugnis dafür ablegen können, ein gültiges Zeugnis, weil es unmittelbar empfunden wird, als lebendiger Quell der Wahrheit empfunden wird, ein gültiges lebendiges Zeugnis für die innere Wahrheit des Anthroposophischen. 

Das hängt auch zusammen mit dem, was der Anthroposophischen Gesellschaft notwendig ist: daß in ihr Persönlichkeiten auftreten müssen, die, wenn ich mich des paradoxen Ausdrucks bedienen will, den guten Willen zum Willen haben. Heute nennt man Willen jeden beliebigen Wunsch; aber ein Wunsch ist kein Wille. Manche möchten, daß etwas so und so gelinge. Das ist kein Wille. Der Wille ist tätige Kraft. Die fehlt heute im weitesten Umfange. Die fehlt dem Menschen der Gegenwart. Die darf aber nicht fehlen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Da muß ruhiger Enthusiasmus in starkem Willen verankert sein können. Das gehört auch zu den Lebensbedingungen der Anthroposophischen Gesellschaft. 

 

 

Hat Ihnen dieser Artikel etwas gegeben? Dann geben Sie doch etwas zurück! – Unterstützen Sie das Freie Geistesleben, also zum Beispiel meine Arbeit im Umkreis-Institut durch eine

Spende! 

Sollte Ihnen aber Ihre Suchmaschine diesen Artikel nur zufällig auf den Monitor geworfen haben, Sie das Alles sowieso nur für (elektronisches) Papier beziehungsweise nur für Worte – also für Pille-Palle – halten, dann gibt es 

hier 

einen angenehmen und lustigen Ausgang für Sie.

Falls Ihnen dieser Artikel jedoch unverständlich, unangebracht, spinnig oder – noch schlimmer – „esoterisch“ vorkommen sollte, gibt es vorerst wohl nur eine Lösung, nämlich die Seite des Umkreis-Institutes weiträumig zu umfahren. Also:  

Don‘t touch that!