Rudolf Steiner: Keine Welterklärung durch das Instrument des Gehirns

 

(GA 129 S. 206)

Wir müssen uns einmal ernstlich die Frage beantworten: Woher kommt das? Wenn Sie den ganzen Geist der bisherigen Vorträge ins Auge fassen und manches andere, was im Laufe der Zeit zu Ihnen gesprochen worden ist, dann müssen Sie sich sagen, daß die Art und Weise, wie der Mensch die Welt anschaut, sich im Laufe der Zeiten mannigfaltig geändert hat. Der Mensch ist ein anderer geworden, und in den alten Zeiten des Hellsehertums sind viel stärkere, gewaltigere Kräfte aus der Gesamtheit der menschlichen Wesenheit in Anspruch genommen worden als heute. Mit der bloßen materialistischen Erklärung sondert gewissermaßen die Seele durch das Instrument des Gehirns die dünnsten, schattenhaftesten Gebilde als Verstandesideen von sich ab, um eine Welterklärung dadurch zu geben. Viel vollsaftiger, viel mehr von Realität erfüllt waren die alten Erklärungen der mehr oder weniger hellseherischen Zeiten. Wir haben ja gestern gesehen, wie unser Gehirn eine Art Apparat ist, der unseren Astralleib zum Stauen, zum Stehenbleiben bringt und die Gebilde dieses Astralleibes, weil sie von unserem Gehirn nicht durchgelassen werden, als unsere Weltgedanken zum Bewußtsein kommen läßt. In den Zeiten des alten hellseherischen Bewußtseins sind aber vom Menschen nicht nur diese Gebilde des Astralleibes aufgehalten worden, sondern auch noch die des Ätherleibes. Die Folge war, daß der Mensch viel mehr von seiner eigenen Wesenheit, von seinem eigenen Selbst, von seinem Seelenstoffe einfließen ließ in die Gebilde seiner Erkenntnis. 

Wir könnten etwa schematisch sagen: Das alte Hellsehen, auch noch das alte, viel mehr der Phantasie hingeneigte Schauen der Griechen war so, daß, wenn ein Gedanke an Zeus, an Dionysos, vor der Seele des alten Griechen stand, er vollsaftig dicht erfüllt von Realität war, die allerdings zunächst aus dem menschlichen Seelenstoffe selbst genommen war, aber weil dieser aus allen Tiefen der Welt herausgenommen war, so hatte eine solche Vorstellung der alten Griechen von ihren Göttern viel mehr Realität in sich als Gedankenbilder der neuen Zeit. Wenn ich den Gedanken des alten Griechen mit einem Kreise bezeichne, so müßte ich den Gedanken eines heutigen Menschen viel dünner mit Seelenstoff, mit Seelensubstanz erfüllt Ihnen hinzeichnen. Die menschliche Seele nimmt viel weniger und viel Dünneres als früher aus sich heraus, wenn sie die Gebilde der heutigen Ideen, Vorstellungen formt, so daß in dem Weltbilde, das sich die Seele mit dem heutigen Bewußtsein aneignen kann, viel weniger von Weltenrealität enthalten ist als in dem früheren Gebilde. So daß also die Wahrheit eine umgekehrte ist von der, die sich zumeist der heutige gelehrtenhafte philosophische Hochmut bildet, welcher meint, die Griechen hätten in ihren Göttern phantastische Gebilde gehabt, in denen keine Realität war, erst in den heutigen Naturgesetzen mit ihren Abstraktionen sei Realität. Nein, so ist es nicht. Viel dichter erfüllt von wirklicher Realität waren die Gebilde der griechischen Erkenntnis, und wie ausgepreßte Zitronen sind dafür diejenigen Erkenntnisse, die heute uns durch die Naturgesetze zukommen. Das ist etwas, was die Seele fühlen kann, wenn sie nicht voreingenommen ist durch den gelehrten und wissenschaftlichen Hochmut unserer Zeit, sondern wenn sie dürstet nach Erfüllung des Bewußtseins mit Realität. Wenn unsere Seele fühlt, daß sie nach Realität dürsten muß, dann hat sie gegenüber dem, was sich ihr insbesondere heute darbietet in dem, was man die strenge Wissenschaft nennt, das Gefühl, daß sie gerade da am meisten in die Illusion oder Maja verstrickt ist. Niemals gab es in der Welt solche Verstricktheit mit der Maja als in den Gebilden der heutigen Philosophie oder Wissenschaftlichkeit. 

Warum ist das so gekommen? Weil der Mensch im Laufe seines Erdenwerdens sein gegenwärtiges Ich-Bewußtsein entwickeln mußte! Dazu mußte er ganz allein selbständig mit sich, mit seinem Ich sein. Dazu mußte er abgezogen werden von jener Verbindung mit der Außenwelt. Jene starken substantiellen Inhalte, welche ihm die Möglichkeit gaben, viel Seelenstoff in seine Gestaltungen hineinzupressen wie bei den griechischen Göttergestalten, hätten dem Menschen unmöglich gemacht, weil er zu sehr ergossen gewesen wäre in die Welt, zu seinem Ich-Bewußtsein zu kommen. Damit der Mensch in bezug auf sein Ich-Bewußtsein stark werden konnte, mußte er losgerissen werden, isoliert werden von den Weltenrealitäten, so daß unsere Seele gegenüber den Weltenrealitäten schwach, unendlich schwach für objektive Welterkenntnis werden mußte. Als erkennende Seele, als bewußte Seele in bezug auf das Weltbewußtsein ist unsere Seele, die besonders dazu geeignet ist, das Ich-Bewußtsein auszubilden, am allerschwächsten gegenüber den Zuständen, die sie einst selbst durchgemacht hat. Wegen unserer Schwäche, zu der wir uns entwickeln mußten, müssen in unserem heutigen Bewußtsein jene dünneren, von geringer Realität erfüllten Ideen und solche verstandesmäßigen Naturgesetze auftreten. 

Derjenige, der nun heute aus der Gelehrsamkeit oder aus dem sonstigen Autoritätsglauben unserer Zeit heraus zu der rein in Abstraktionen hausenden Naturwissenschaftlichkeit erzogen wird, wird allerdings nicht vordringen zu dem Gefühle der unendlichen Verarmung gegenüber der wahrhaften Realität. Wer aber den Durst nach einem Verwachsen mit der Weltenrealität in sich fühlt, der weiß, wie ihn in einem gewissen Zeitpunkte seines Lebens das Gefühl überkommt: O wie fühlt man sich in allen heutigen Vorstellungen entfernt von der wahren Realität, wie fühlt man sich in bloßen äußeren Schemen, in Schattenbildern! — Das könnte man auch in äußeren wissenschaftlichen Formen ausdrücken, und Sie finden es so ausgedrückt in meinem kleinen, vor vielen Jahren erschienenen Werke «Wahrheit und Wissenschaft». Da wird gezeigt, daß der Mensch dadurch, daß er zum gewöhnlichen Verstandeswissen kommt, nur zu einem Teile des Wissens, der Wahrheit, gelangt und vorwärtsdringt zu einer anderen Gestalt der Welt, als die ist, die sich ihm darbietet. Das ist der wissenschaftliche Weg, der ganz gut gangbar ist, wenn er auch für die Philosophie der heutigen Zeit unverständlich klingt. Aber auf der anderen Seite entsteht das Streben, durch die esoterischen Wege hineinzudringen in eine vollsaftigere Wirklichkeit, als die bloßen abstrakten Verstandesgesetze es geben können. Und dann, wenn die Seele so fühlt, daß sie mit dem heutigen normalen Bewußtsein nur Ideen hervorbringen kann, die Maja sind gegenüber der vollsaftigen Realität, wenn diese Seele nicht eine ausgepreßte Zitrone ist, die bloß die gegenwärtigen Wissenschaften anerkennt, dann fühlt sie sich wie leer gegenüber der Weltenrealität. Dann fühlt sie zwar, daß sie mit ihren Ideen bis an das Ende der Welt kommen kann, bis an die Weltenfernen, aber sie berücksichtigt nicht den Ausspruch vom zweiten Drama «Die Prüfung der Seele»: «Bei Weltenfernen ende nicht.» Denn wer im Ernste bei Weltenfernen enden wollte, den müßte ein Gefühl überkommen, wie wenn er sich ausbreitete mit den Ideen, die an sich schon schwach sind, über einen unendlich weiten Raum. Da werden sie noch mehr verdünnt, und je weiter wir in die Weltenfernen kommen, desto dünner werden sie, und wir stehen vor dem unendlich leeren Abgrund mit unseren Ideen. Das muß als Seelenprüfung auftreten. Der nach Realität Dürstende, der im Sinne der abstrakten Wissenschaftlichkeit sich über die Rätsel und Wunder der Welt aufklären muß, steht zuletzt mit den sich völlig in spirituellen Dunst auflösenden Ideen vor der Weltenleere. Dann muß die Seele unendliche Furcht vor der Leere empfinden. Wer diese Furcht vor der Leere nicht empfinden kann, der ist einfach noch nicht so weit, daß er die Wahrheit fühlt über das gegenwärtige Bewußtsein. 

So steht uns, wenn wir das gegenwärtige Bewußtsein in die Weltenfernen ausdehnen wollen, als ein furchtbares Schreckgebilde die Furcht vor der Weltenleere in Aussicht, die niemandem erspart werden kann, der ernst nimmt, was gegenwärtiges normales Bewußtsein ist. Solche Prüfung muß die Seele durchmachen, wenn sie den Sinn und Geist unserer Zeit durchmachen will. Sie muß einmal an dem Abgrunde, der sich nach allen Seiten auftut, wenn wir mit unseren Ideen die Raumesweiten durchdringen wollen, diese unendliche Furcht vor der Leere empfinden, vor dem Sich-Verlieren in dem Weltenraume, in den Weltenweiten. Und wenn uns aus der Goetheschen Weltanschauung geläufig ist jenes Wort: Einswerden mit dem Weltall, sein Selbst zu einer Welt erweitern…, so müssen wir sagen: Wenn mit den Mitteln der heutigen Erkenntnis bis in die Weltenfernen gegangen wird und man versucht, mit heutigen philosophischen Prinzipien, die ja immer abstrakt sein müssen, weil sie aus dem gegenwärtigen Bewußtsein genommen sind, die Welt zu begreifen, dann muß eine gesunde Seele die Prüfung durchmachen des Stehens vor dem Leeren, vor dem Abgrunde nach allen Seiten, die Furcht, mit dem besten Teile seines Wesens, mit dem, was das Bewußtsein ausmacht, sich aufzuzehren im endlosen Nichts. — Dieses Gefühl ist das allgemeine Gefühl, und alle sonstigen Gefühle der Seelenprüfungen sind nur Spezialgefühle von dieser Furcht vor der Leere, diesem horror vacui. Und ungesund wäre es bei dem engbegrenzten Seelenleben, wenn man nicht empfinden könnte, wie das gegenwärtige Bewußtsein zersprüht und zersplittert gegenüber dem unendlichen Weltenall, sobald es sich zu diesem Weltenall erweitern will. Das ist das Schicksal der Seele, wenn sie mit ihrem heutigen Bewußtsein hinausdringen will in die Weltenfernen, in die Weltenweiten. 

 

 

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