Rudolf Steiner zur Bedeutung des reinen Denkens für die Meditation 

 

Aus Nr. 84 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe, S. 71 (Hervorhebungen IH): 

So können wir sagen, dass der Mensch wollend, auch wenn er wacht, im tiefen traumlosen Schlaf ist, dass er fühlend träumend ist, auch wenn er wacht, und dass er nur in einer gewissen Weise wach ist, wenn er in Vorstellungen lebt. Aber wenn der Mensch wirklich ehrlich nach seinem Innern hinschaut, so merkt er: diese Vorstellungen sind auch nur wach in Bezug auf die äußere Natur, nicht in Bezug auf ihr eigenes Leben. In Bezug auf das eigene Leben der Vorstellung kann der Mensch nicht zu einem rechten Wachen kommen. Man muss sich nur klar sein darüber, wie ja für die meisten Menschen, wenn sie nichts Äußerliches vorstellen können, eine vorstellende Tätigkeit überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Aber das ist ja eigentlich nur deshalb, weil insbesondere in der heutigen Kultur der Mensch an die Außenwelt hingegeben ist, so dass wir dieses Hingegebensein vergleichen können mit dem Dasein in einer tosenden, brausenden Welt. 

Denken Sie sich einmal, hier spiele jemand Piano oder irgendein Instrument, und da draußen tosten die Maschinen in einer ganz außerordentlichen Weise. Sie würden die Maschinen hören. Das Piano würden Sie wenig wahrnehmen können, besonders wenn Sie etwas weiter weg davon waren. So ist es im Grunde genommen auch gegenüber dem, was eigentlich im Innern des Menschen von der Denktätigkeit lebt. Nur müssen wir da den Vergleich richtig gebrauchen. Wenn wir heute die äußere Naturwissenschaft lernen, wenn wir da alle die Begriffe aufnehmen, die in der äußeren Evolutionslehre dem Menschen gebracht werden, dann ist das im Grunde genommen ein Denkgetöse, ein Denklärm. Und dieser Denklärm, dem sich der heutige Mensch, insbesondere auch wenn er Wissenschafter ist, hingibt, stört ihm die feinere Wahrnehmung der inneren Denktätigkeit. Daher verschläft er auch die innere Denktätigkeit. 

Ich habe in meiner «Philosophie der Freiheit» auf dieses reine Denken, das nicht etwas Äußerliches denkt, sondern das ganz im Innern des Menschen verläuft, hingewiesen. Aber ich bin mir auch bewusst, dass ich mit diesem reinen Denken eigentlich etwas geschildert habe, von dem viele unserer Zeitgenossen sagen, das gibt es ja gar nicht; so wie derjenige, der das Getöse von Maschinen da draußen hören würde und das Piano nicht, sagen würde, das gibt es ja gar nicht.

Aber wenn das so ist, können wir etwas außerordentlich Wichtiges daraus ersehen, nämlich dieses, dass wir eigentlich nur für das Denken, insofern es einen äußeren Naturinhalt hat, wachen, dass wir aber in Bezug auf die innere Tätigkeit, die wir da vollbringen, schon höchstens träumen. Außerdem träumen wir die Gefühle und verschlafen den Willen. Also die Seelentätigkeit, dasjenige, was uns im Innern lebt, das ist im Grunde genommen nicht erwacht, wenn wir für die Sinneswelt wachen. Wir schlafen fort, auch während des Tagwachens, für unsere Denktätigkeit, für das Fühlen, für das Wollen. Wir wachen nur für die äußere Natur auf. Und dieses Aufwachen, das bilden wir ja noch durch Instrumente, durch Experimentiermethoden aus und gelangen dadurch gerade zu der bedeutungsvollen Naturwissenschaft der Gegenwart. Die muss entstehen, indem sich die äußeren Vorgänge gewissermaßen in den Vorstellungen spiegeln. Aber wir wachen nicht in demselben Maße für unser Denken, Fühlen und Wollen auf. Und wer unbefangen betrachten kann, wie sich eigentlich der Traum von der äußeren physisch-sinnlichen Wahrnehmungswelt unterscheidet, der wird das Seelenleben nach Denken, Fühlen und Wollen nicht ähnlich finden demjenigen, was äußere sinnliche Wahrnehmungseindrücke sind, sondern er wird dieses Seelenleben höchstens ähnlich finden seinem bedeutsamsten Elemente, dem Träumen. Mit Bezug auf unseren Seeleninhalt träumen und schlafen wir eigentlich fortwährend. Wir wachen nur zum Naturinhalte auf. Wir wachen gar nicht zu unserem Seeleninhalt auf im gewöhnlichen Bewusstsein, da schlafen wir sanft fort. Und wir sagten ja: Die Traumesbilder sind gewissermaßen so, dass man sie durchstoßen kann, dass sie nicht auf einer harten äußeren Wirklichkeit aufliegen, die dem Willen unterliegt. So ist aber unser Seeleninhalt auch. Er lebt in Bildern. Und wer die Fähigkeit hat, Qualitäten zu vergleichen, nicht bloß Quantitäten, der wird schon finden, dass, wenn er dem Trauminhalt Bildcharakter beilegt, der zunächst nicht auf eine Wirklichkeit weist, er dem eigenen Seeleninhalt auch Bildcharakter beilegen muss. 

Dann aber entsteht daraus gerade eine bedeutungsvolle Frage. Lebe ich in Träumen, so wache ich zu der physischen Wirklichkeit auf, fühle mich dann dadurch, dass ich mit meinem Willen in meinen Leib eingeschaltet bin, mit der physischen Wirklichkeit als mit einer Realität verbunden, und ich spreche vom Gesichtspunkte dieser physischen Wirklichkeit aus dem Traum höchstens eine relative, eine ganz andersartige Realität zu. 

Kann ich nun – so ist die Frage – in derselben Weise für das Seelenleben aufwachen, wie ich für die Natur aufwache? Kann ich mich einschalten, wie ich durch meinen Willen, den ich in meinen Leib hineinrücke, die Traumesbilder einschalte in das, was die Struktur der Wirklichkeit ist, kann ich ebenso das Denken, Fühlen und Wollen durch ein höheres Erwachen einschalten in eine entsprechende Wirklichkeit? Das, sehen Sie, ist die Frage: Kann ich für das Seelenleben ebenso aufwachen, wie ich für die Natur aufwache? Der Naturinhalt, den ich als Mensch während des Erdendaseins mit der äußeren physisch-sinnlichen Wirklichkeit erlebe, erscheint mir bildhaft im Traume, Aber das ganze Seelenleben erscheint mir auch nur bildhaft wie im Traume. Also, kann ich für das Seelenleben aufwachen? 

Ja, man kann aufwachen. Man kann dadurch aufwachen, dass man sich eben durch solche Übungen, wie ich sie angegeben habe in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und in meiner «Geheimwissenschaft», zunächst das Denken verschärft, verinnerlicht, dass man nicht bloß sich anregen lässt zu einem Gedankeninhalt von außen, sondern dass man sich einen überschaubaren Gedankeninhalt, der einem nicht suggeriert wird, von innen gibt, dann auf diesem Gedankeninhalt ruht, sich konzentriert auf einen solchen aktiv von innen der Seele gegebenen Gedankeninhalt. Dann kommt man auf diese Weise nach und nach zum wirklichen Bewusstsein des Denkens. 

Man hat ja gar nicht das Bewusstsein des Denkens, wenn man sich für die Vorstellungen nur von außen anregen lässt. Nur wenn man immer wieder und wiederum sich von innen zum Denken anregt durch Meditation, durch Konzentration auf Gedankeninhalte, dann wird man sich gewahr innerhalb des Denkens. Dann geht einem auf, dass man eigentlich in diesem Denken lebt, aber dass man es nur nicht weiß, wenn man sich allein von außen anregen lässt. Das Denken wird auf diese Weise lebendig, während es sonst abstrakt und tot ist. Das Denken wird etwas, was nicht bloß in den Denkschatten besteht, die wir von außen bekommen, sondern etwas, was sich wie ein Seelenblut innerlich regt. Man wird wie ausgefüllt mit einer zweiten Menschlichkeit.

Die Gedanken werden lebendige Kräfte, Bildekräfte, wie ich sie auch in meinem Buche «Theosophie» genannt habe. Und man wird gewahr, daß man das Denken eigentlich als einen zweiten Leib in sich trägt, als den Ätherleib, als den Bildekräfteleib; denn man wird gewahr, daß dasjenige, was sonst nur abgeschattet in Gedanken besteht, eigentlich dieselben Kräfte sind, die unser Wachstum bewirken. Man zieht sich zurück in das Wachstum seines menschlichen Wesens, und man kommt darauf, wie das, was als die Prozesse, die sonst bloß chemisch verlaufen würden nach Maßgabe der Eigentümlichkeiten der Stoffe, die wir aufnehmen, wie das durch dieselbe innere Geistleiblichkeit, ätherische Leiblichkeit, die unsere Gedanken bildet, verarbeitet wird, wie wir ein einheitlicher innerer Mensch werden durch diese innerlich lebendigen, sich regenden Gedanken. Man lernt also in sich einen zweiten Menschen auf diese Weise kennen. 

Aber man kommt noch auf etwas anderes. Dieser zweite Mensch, den man da kennenlernt, der ist nicht etwa bloß eine Wolke, die den räumlichen physischen Leib unbestimmt ausfüllt. Dieser zweite Mensch ist eigentlich in fortwährender Bewegung, und es ist gar nicht möglich, ihn in einem Momente festzuhalten. Sehen Sie, da ist es eigentlich so: Wenn wir den physischen Leib des Menschen in einem bestimmten Punkte des Lebens haben, dann können wir das, was wir so erleben, und was mit unserem Denken identisch ist – nur daß wir im gewöhnlichen Denken die Schatten der Gedanken haben, nicht die lebendigen Gedanken selbst – für einen Moment da hinzeichnen (siehe Zeichnung). Was als ein solcher zweiter Äther- oder Bildekräfteleib den Menschen durchzieht, ist eben nur für einen Augenblick festzuhalten. Im vorigen Augenblick war das ganz anders; im nächsten Augenblick wird es wieder anders sein, und so weiter zurück und weiter vorwärts. 

 

 

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