Zum Erleben des Ich

 

von Ingo Hagel

 

Es kann passieren, dass man im gewöhnlichen Leben seines gewöhnlichen Alltages über etwas stolpert, worüber man – 

wie es halt so Usus ist – 

normalerweise nicht stolpert, sondern das man einfach für gegeben hält, worüber man also hinweggeht, indem man es – 

so, wie man im Theater die Kulissen für Realität halten soll –

es ebenfalls für die Realität hält: Es kann passieren, dass man sich fragt, was denn das Ich des Menschen beziehungsweise das eigene Ich denn eigentlich ist. Dabei kann man entdecken, dass man zwar ein merkwürdig leeres Gefühl von diesem Mittelpunkt seines Lebens hat, dass dieser aber nicht ausgefüllt ist mit einem wirklichen Erlebnis, sondern nur umstellt ist mit den Gedanken-, Gefühls- und Willenskulissen aus seinem ganz gewöhnlichen Alltag – eben ganz wie im Theater. Nimmt man diese Kulissen allerdings weg –

rein hypothetisch, denn real werden diese Kulissen eben nur im reinen, sinnlichkeitsfreien Denken weggeräumt –

bleibt von diesem Mittelpunkt seines Wesens nichts übrig – als höchstens die Frage, was denn da nun eigentlich sein könnte. Eigentlich könnte man sich an diesem Punkt gestehen, wenn man nur ehrlich genug zu sich selber wäre, dass man in seinem Bewusstsein kein wirkliches Ich zur Verfügung hat –

abgesehen von vielleicht einem Haufen Emotionen und instinktiver Willensimpulse, die man für „Persönlichkeit“ halten mag – 

dass man also bestenfalls nur ein Wort für etwas hat, das in Einem auf Realisierung wartet. 

 

Ist man durch Erlebnisse dieser Art in einer gewissen Weise vorbereitet 

für die bedeutungsvolle Schwere dieser Ich-Angelegenheit, dann kann es sein, dass man bei bestimmten Ausführungen Rudolf Steiners zu diesem Thema sich doch wie elektrisiert fühlt. Zu diesen geistig überaus kribbeligen Erlebnissen könnte zum Beispiel die Begegnung mit diesem Satz Rudolf Steiners gehören, wonach das reine Denken der Schöpfer des Ich ist (GA 35, S. 102):  

Für das Ich ist es nicht gleichgültig, was das reine Denken tut, denn das reine Denken ist der Schöpfer des Ich.

Auch diese Aussage bestätigt mal wieder dieses mulmige Gefühl, dass Einen immer mal wieder überkommen kann, dass man nämlich kein wirkliches Ich zur Verfügung hat, außer eben man realisiert es und hebt es an die Oberfläche eines bewussten und zwar reinen Denkens – wie man eben hier in dieser GA 35 erfahren kann.       

Noch mulmiger kann Einem werden, wenn man sich die Perspektive ausmalt, dass man außer dieser Realisierung eines reinen Denkens niemals zur Realisierung seines Ich kommt, denn nicht derjenige Teil seines Wesens, mit dem man hier in diesem irdischen Dasein zu Amt, Würden und einem hochdotierten Job kommt, realisiert das Ich des Menschen, sondern

das reine Denken ist der Schöpfer des Ich.

 

Noch viel ungemütlicher kann es einem werden, falls man daran denken sollte, 

dass es doch gerade diese „Philosophie der Freiheit“ Rudolf Steiners ist, die ganz in diesem reinen Denken geschrieben ist, und die doch nun wirklich nicht so ganz einfach zu lesen und zu verstehen ist. – 

Siehe zu dieser „Philosophie der Freiheit“ auch hier auf Umkreis-Online. –

Aber Rudolf Steiner teilte den Menschen auch wie zur Beruhigung mit, dass man an dieser „Philosophie der Freiheit“ durchaus Nüsse zu knacken haben wird. Es ist eben nicht so einfach, „Schöpfer des Ich“ zu sein – beziehungsweise –

da das Ich, wie wir an der Leere des gewöhnlichen, von Kulissen umstellten Ich-Erlebnisses schon geahnt haben, im Kern eine völlig geistige Angelegenheit ist –

sich solche geistigen Inhalte in seinem Denken zu schaffen, an denen man zu einem ersten, wirklichen Erlebnis seines Ich kommen kann. 

 

Hier ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit, 

die in der heutigen verintellektualisierten Zeit behandelt werden muss. –

Aber was müsste nicht Alles zu diesem großen Thema behandelt werden. –

Sollte man nun tatsächlich die heroische Tat dieser Selbst-Schöpfung unternehmen, die adäquate Grundlage für ein Erleben seines Ich ausbilden, indem man sein reines Denken ausbildet – 

was zum Beispiel geschehen könnte durch den oben angeführten aufschlussreichen, aber eben erkenntnistheoretischen Vortrag Rudolf Steiners in dieser GA 35 – oder selbstverständlich durch die „Philosophie der Freiheit“ – oder einfach nur durch die vielen Darstellungen in Büchern und Vorträgen Rudolf Steiners zu den verschiedensten Themen des Lebens – 

dann wird das enttäuschende Erlebnis in vielen Fällen wohl erstmal nur sein, dass man von diesem Ich nichts erlebt, weil man – 

gerade wenn man sich anstrengt – auch mit viel „gutem Willen“ anstrengt –

noch tiefer in sein intellektuelles Denken hineinrutscht, als man vielleicht vorher schon war. Dann erlebt man nicht sein Ich, sondern im besten Falle in seinem Kopf –

und daher auf unangenehme Weise – 

ein verintellektualisiertes Zerrbild seiner selbst und auch der Anthroposophie – das dann aber keine solche mehr darstellt. 

 

Die andere Schwierigkeit besteht darin, 

dass aufgrund des allgemeinen Niedergangs und Verfalls des Verstandes –

der eine charakteristische Signatur dieser Zeit ist – und der nicht ab-, sondern zunehmen wird, wenn der Mensch nichts dagegen unternimmt –

der Mensch das Empfinden haben kann, dass diese ganze Anthroposophie doch „überhaupt nicht zu verstehen ist“ – und vermutlich einen „groß angelegten Betrug darstellt“. Und mit Blick auf Rudolf Steiner: „Woher will der das denn Alles wissen?“ 

Solche Menschen stehen dann vor der Gefahr, in ihrem sehr leicht geschürzten und gedankenschwachen spirituellen Drang, etwas fühlen und erleben zu wollen –

bevor sie überhaupt erst einmal Etwas wirklich gedacht haben –

auf die gefährliche mystische Schiene zu geraten. Auch auf diesem Wege ist weder ein Erlebnis des Ich zu erreichen noch der Anthroposophie. Vielmehr wird man immer weiter vor der Gefahr stehen, beides zu verlieren.

 

Damit sind nur kurz zwei grundsätzliche Gefahren und Schwierigkeiten geschildert 

im Aufeinanderprallen des Menschen mit der Anthroposophie und dem Element, in dem sie lebt: dem reinen Denken. Gefahren und Schwierigkeiten bedeuten selbstverständlich nicht, dass man bestimmte Wege, auf denen diese vorkommen, nicht gehen sollte. Auch ist ja gerade die Anthroposophie und das reine Denken das Gesundungsmittel, das allein geeignet ist, diese grundsätzlichen Krankheitszustände des sogenannten modernen Menschen zu heilen. –

Und das heutige auf das einseitige Nervenerleben des Kopfes reduzierte Auffassen der doch eigentlich so unendlich mannigfaltigen Welt, das sich so unheilvoll und verwüstend durch die Schulen und Ausbildungsstätten und demzufolge auch durch die Berufe und das soziale Leben der Menschen zieht, ist sowohl krankhaft als auch krankmachend – mit weitreichenden Folgen. Genauso, wie die ichschwache Verweigerung jeder nur ein wenig schärferen und geordneten Begriffsbildung krankhaft ist. Hier muss eine Gesundung erfolgen. – 

 

Zwar empfinden immer mehr Menschen diese Krankheiten 

zum Beispiel als Sinnlosigkeit des Daseins, aber nur in wenigen Fällen wollen sie die Anstrengungen unternehmen, die das Heilmittel, das heißt die Anthroposophie, die immer auf die Aktivität des reinen Denkens gegründet ist – 

und die nicht auf die Passivität des mit Sinnlichkeit durchwobenen gewöhnlichen Bewusstseins gebaut ist –

erfordert. Auch kann es durchaus sein, dass die Schäden, die dieses sogenannte „moderne Leben“ im Organischen des Menschen gerissen haben mag –

und die sich heute durch Nervenzusammenbrüche, Burnout, Depressionen und so weiter äußern –

durch einen wirklichen Arzt ersteinmal organisch etwas ausgebessert werden müssen. 

 

Aber die wirkliche Heilung wird eben in der Korrektur 

des zugrunde liegenden krankmachenden Elementes liegen, das diese Schäden immer wieder hervorrufen muss, wenn es nicht harmonisiert und gesundet wird. Und das kann nur der Mensch selber machen, der allerdings dessen bedarf, was ihm die Zeit schon reichen möchte: die Anthroposophie und deren reines, lebendiges Denken als Schöpfer und Hervorbringer des Ich. 

Man wird sich in der Auseinandersetzung mit diesem kräftigenden geistigen Heilmittel der Anthroposophie hindurchringen müssen zu einem Erleben auf geistigen Gebiet. Und dieses erste Erleben besteht durchaus schon darin, überhaupt an diesen Ausführungen zum Beispiel dieser GA 35 beziehungsweise der „Philosophie der Freiheit“ etwas erleben zu können.   

 

Damit hat man dann aber bereits diesen Punkt erreicht, 

in dem man sich selber, also sein Ich, völlig anders, allerdings realer erlebt als man es sonst in dem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein erlebt. Viel wäre dazu zu sagen. Etliches ist ja auch schon hier in den Artikeln zur „Philosophie der Freiheit“ hier auf Umkreis-Online gesagt worden. Hier an dieser Stelle könnte – nur zum Beispiel – auch darauf hingewiesen werden, dass, wenn man sich etwas und in der richtigen Weise in dieses reine Denken eingearbeitet hat, so dass es nicht mehr ein Kopfdenken darstellt, man dieses Denken eben auch nicht mehr so derart im Kopf erlebt, sondern mehr im unteren Menschen, also zum Beispiel in der Brust, wie Rudolf Steiner ist hier beschreibt:        

Nehmen Sie also an, Sie könnten Gedanken im reinen Gedankenflusse haben. Dann beginnt für Sie der Moment, wo Sie das Denken bis zu einem Punkte geführt haben, an dem es gar nicht mehr Denken genannt zu werden braucht. Es ist im Handumdrehen – sagen wir im Denkumdrehen – etwas anderes geworden. Es ist nämlich dieses mit Recht «reines Denken» genannte Denken reiner Wille geworden; es ist durch und durch Wollen. Sind Sie im Seelischen so weit gekommen, dass Sie das Denken befreit haben von der äußeren Anschauung, dann ist es damit zugleich reiner Wille geworden. Sie schweben, wenn ich so sagen darf, mit Ihrem Seelischen im reinen Gedankenverlauf. Dieser reine Gedankenverlauf ist ein Willensverlauf. Damit aber beginnt das reine Denken, ja sogar die Anstrengung nach seiner Ausübung, nicht nur eine Denkübung zu sein, sondern eine Willensübung, und zwar eine solche, die bis in das Zentrum des Menschen eingreift. Denn Sie werden die merkwürdige Beobachtung machen: Erst jetzt können Sie davon sprechen, daß das Denken, wie man es im gewöhnlichen Leben hat, eine Kopftätigkeit ist. Sie haben ja vorher gar kein Recht, davon zu sprechen, dass das Denken eine Kopftätigkeit ist, denn das wissen Sie nur äußerlich aus der Physiologie, Anatomie und so weiter. Aber jetzt spüren Sie innerlich, dass Sie nicht mehr so hoch oben denken, sondern dass Sie beginnen, mit der Brust zu denken.

 

Viele Menschen der heutigen Zeit halten solche Ausführungen natürlich bestenfalls für lustig – also für nicht ernstzunehmen. 

Gar nicht lustig sind allerdings die bizarren sozialen Ereignisse, die aus dem heutigen Kopfdenken hervorgehen, das so gar nichts mit dem Willen und mit einem Erleben des Denkens mehr im unteren Menschen zu tun haben. Und es ist auch immer wieder zu erleben, dass die Menschen beleidigt oder empört sind, wenn man sie zart darauf hinweist, dass es oft nicht an irgendwelchen „bösen“ Dingen in der Außenwelt liegt, dass es ihnen schlecht geht, sondern dass es letztlich an ihnen selber und an ihrem den Erscheinungen der Welt gegenüber unangemessenen Denken liegt. Zu diesen Erscheinungen der Welt gehört natürlich dann natürlich auch die Erscheinung ihres Selbst, die aus der Wahrnehmung zu einer wahren, geistig erlebten Realität zu erheben ist, wenn diese Erscheinung nicht mit Steinen, Pflanzen, Tieren und sonstigen Objekten völlig gleichbedeutende und auf einer Stufe –

nämlich der Stufe der bloßen Erscheinung – also des Scheins –  

stehendes Objekt stehenbleiben soll. 

 

  

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Zum Erleben des Ich wurde am 21.04.2022 unter Zum Zeitgeschehen veröffentlicht.

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