von Ingo Hagel
Dieses hier ist eine der vielen Stellen, in denen Rudolf Steiner seine Zuhörer dazu auffordert, das von ihm im Vortrag Ausgeführte, aber nur Angedeutete, selber meditativ weiter zu bearbeiten, zu durchdenken (GA 158 S. 88, siehe dazu auch hier):
Es sind dies schwierige Wahrheiten, und Sie müssen sich schon daran gewöhnen, weil ich nicht die Möglichkeit habe, die man hoffentlich aber einmal haben wird in der Erdenevolution, die Möglichkeit, die Dinge, die ich in einer Stunde auseinandersetzen muß, in einem ganzen Jahre auseinanderzusetzen, Sie müssen sich darauf einlassen, vieles durch Ihre Gedanken zu ergänzen, das Gesagte meditativ zu durchdenken. Dann wird es Ihnen voll geläufig werden. Namentlich versuchen Sie nicht, mit diesen oder jenen voreiligen Empfindungsnuancen an die Dinge heranzukommen.
Aber Rudolf Steiner meinte natürlich nicht, dass das von ihm Gesagte mit dem Kopf humanistisch-philologisch-journalistisch – oder was weiß ich – zu durchdenken sei, sondern er sagte, dass
das Gesagte meditativ zu durchdenken
sei.
Für den, der erwartet, dass irgendwelche Meditations-Zaubersprüche
ihn träumend in die geistige Welt tragen, mögen solche Aufforderungen überraschend und enttäuschend klingen, soll er doch nun –
ohne diese schönen Meditations-Zaubersprüche –
selber aktiv denkend tätig werden, selber Gedanken bilden und vielleicht innerlich Sätze formen, und dadurch Dinge, die Rudolf Steiner aus den verschiedensten Gründen –
in obigem Beispiel angeführter Zeitmangel – sowie manchmal auch die Unmöglichkeit, bestimmte Dinge ob der Unreife der Zuhörer detaillierter auszuführen, und so weiter –
nicht weiter ausführen konnte, denkend selber weiterzuentwickeln.
Besonders „der Anthroposoph“ hat meistens einen guten Riecher dafür,
was konkrete, scharfumrissene, abstrakte, aber reine Gedanken sind, die an die eigene Denkkraft appellieren, indem sie der eigenen Anstrengung bedürfen, erarbeitet und weiter ausgestaltet zu werden. Was Rudolf Steiner damals mit Blick auf die Weltanschauung Hegels sagte:
Merkwürdig mutet uns ja in unserer heutigen Zeit, wo das Abstrakte so verpönt ist, wo der bloße Gedanke so wenig geliebt wird, diese Weltanschauung an.
das trifft ja heute selbst noch auf die abstrakten, aber reinen und so lebendigen „bloßen Gedanken“ der „Philosophie der Freiheit“ zu –
wie überhaupt auf alle die Gedanken der von Steiner entwickelten Erkenntnistheorie, die von einem Gedankenhellsehen zu einem realen Hellsehen überleiten wollten –
die heute so wenig geliebt werden wie damals –
wie Andrej Belyj damals beschrieb. –
Diese Art von selbst erarbeiteten Gedanken liebt „der Anthroposoph“ gar nicht. Er weiß mit ihnen nichts anzufangen. Sie sagen ihm nichts – und er möchte auch keine Anstrengungen unternehmen, dass sie ihm etwas sagen könnten. Daher macht er um diese Gedanken möglichst einen großen Bogen, weil er glaubt und erwartet, die geistige Welt müsste ohne eigene Anstrengung geschmeidig einfach so in ihn hineinflutschen und einströmen, wie er auch sonst sein Denken des gewöhnlichen Bewusstseins in sich dahinströmen lässt (GA 257 S. 52):
Dieses Moment des Übergehens aus einem bloßen Erleiden in ein Tätigsein, das ist es, was auf einer höheren Stufe in ähnlicher Weise beim Lesen der «Philosophie der Freiheit» in dem Menschen auftauchen sollte. Er sollte sich gewissermaßen sagen: Ja, ich habe bisher gedacht, aber dieses Denken bestand eigentlich darin, daß ich die Gedanken in mir strömen ließ, ich gab mich hin dem Strom der Gedanken. Jetzt beginne ich Stück für Stück meine innere Tätigkeit zu verbinden mit dem Gedanken; jetzt ist es so mit den Gedanken, wie wenn ich des Morgens aufwache und die Tätigkeit meiner Sinne verbinde mit der Farben- und Tonwelt oder die Tätigkeit meines Organismus verbinde mit meinem Willen. –
weil der Kopf für diese geistige Welt ausgeschaltet werden müsse. Daran ist nur das richtig, dass natürlich für eine okkulte Forschung das Denken mit dem Gehirn überwunden werden muss, aber dafür muss eben das Denken ohne den physischen Leib/Gehirn umso stärker werden.
In dieser Ablehnung des Denkens kann „der Anthroposoph“ sich allerdings einig
und in „guter“ Gesellschaft fühlen mit der überwältigenden Mehrheit der übrigen nicht-anthroposophischen Bevölkerung, die ebenfalls Gedanken hasst und erwartet, sie könnte aus ihrer misslichen sozialen Lage durch irgendetwas Anderes –
neue, gute Parteien, neue, gute Regierung, neue, gute politische Führer – denn natürlich muss in einem Einheitsstaat alles von der Politik ausgehen, so glaubt man –
befreit werden, aber bloß nicht durch eine eigene Gedankenbildung, wie sie zum Beispiel in der Sozialen Dreigliederung nötig ist.
An der Entwicklung und Darstellung einer Denktechnik dazu hapert es seit 139 Jahren,
also seit der oben angeführten ersten Publikation Rudolf Steiners im Jahre 1926. –
Wie bereits gesagt beklagte das bereits mit Blick auf die vielen verstreuten erkenntnistheoretischen Ausführungen Rudolf Steiners zu dessen Lebzeiten Andrej Belyi. Und dabei ist es mit ein paar sehr wenigen Ausnahmen bis heute geblieben. –
Hatte Rudolf Steiner doch bereits in seinen „Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften“ (GA 1) darauf hingewiesen, dass es durch die Beobachtung des Denkens, durch das „Gewahrwerden der Idee“ –
aber eben „in der Wirklichkeit“, nicht immer nur an der Sinneswelt entlang denkend –
eine Berührung der geistigen Welt mit dem Menschen stattfindet:
Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muss ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.
Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung.
Dabei wurde gleichzeitig auch alles konfessionelle Christentum auf eine neue wissenschaftliche, und zwar geisteswissenschaftliche Grundlage gestellt, indem dem wirklichen Christentum die neuen Wege zu einer allerersten Weihestufe gewiesen wurden, auf denen es auf eigene Füße, das heißt vom Glauben auf das Wissen gestellt wird.
Oben angeführtes Beispiel, in denen Rudolf Steiner seine Zuhörer auffordert,
Vortragsinhalte weiter meditativ zu bearbeiten, sind ein gutes Beispiel dafür, dass die Meditation im Grunde genommen – wenigstens in ihren Anfängen – keinerlei Mantren bedarf, weil das Leben genügend Inhalte zum meditativen Durchdenken desselben bietet, wenn man mit der richtigen Gedankentechnik daran geht. –
Und Letzteres ergibt sich eben bereits und sehr grundsätzlich aus einem richtigen Lesen und Verstehen der „Philosophie der Freiheit“ – wie oft hier auf Umkreis-Online ausgeführt worden ist. –
Denn wie soll das anders zu verstehen sein, wenn Rudolf Steiner seine Zuhörer anregt, einfach über irgendein altes Werk zu meditieren –
Wir könnten ebensogut irgendein altes Werk, das wir ganz sicher noch nicht gelesen haben, nehmen, und uns einen Meditationssatz daraus suchen.
beziehungsweise über irgendeinen „alten Schmöker„, den man zufällig auf irgendeiner Seite aufschlägt (GA 84 S. 218):
Trivial sieht es aus, wenn ich sage, man solle zu diesem Meditationsinhalt etwas benutzen, was man in irgendeinem Buche findet, meinetwillen in einem alten Schmöker, von dem man ganz bestimmt weiß, dass man ihn noch nicht zu Gesicht bekommen hat.
Also warum nicht auch die „Philosophie der Freiheit“ als Meditationsinhalt verwenden?
GA 84 S. 219:
Und für den, der im wissenschaftlichen Arbeiten einige Erfahrungen hat, ist es gut, wenn er wissenschaftliche Ergebnisse als Konzentrationsstoff benutzt; die erweisen sich sogar als dafür am allerfruchtbarsten.
Und ist die „Philosophie der Freiheit“ kein „wissenschaftliches Ergebnis“? Mit obigem Zitat ist doch ganz klar gesagt, dass man sehr wohl die Philosophie der Freiheit als Konzentrationsstoff benutzen kann. Und zwar sogar in „allerfruchtbarster“ Weise.
Ich will ja gar nicht behaupten, dass das hier besprochene Thema
so easy-peasy zu bearbeiten ist, wie man das aus dem Fernsehen, den Beiträgen der Tageszeitung oder irgendwelchen Lifestyle-Magazinen gewohnt ist. –
Sagte doch bereits der alte V-Vischer, den Rudolf Steiner auch in der GA 21 zitierte, dass man sich bereits an den Grenzorten des Erkennens ein paar harmlose „Beulen stoßen“ kann. Das ist sicher noch steigerungsfähig. –
Aber wenn die Anthroposophie eine Zukunft haben soll, dann muss dieser Angelegenheit doch ein größeres und substantielleres Verständnis entgegengebracht werden, als das heute in der Welt der Fall ist. Dazu gehört Ohnmacht, dazu gehört auch die Verzweiflung, bevor ein Umschlag stattfinden kann. Siehe dazu auch hier diese Ausführungen Rudolf Steiners. Selten hat dieser die Erkenntnishaltung, die gegenüber der Anthroposophie –
beziehungsweise dem Bestreben, sich mit einer höheren Erkenntnis zu durchdringen –
nötig ist, so eindringlich und existenziell beschrieben. 26 mal ist dort von Ohnmacht die Rede.
Wie sollte das gegenüber der „Philosophie der Freiheit“ –
die Steiner doch als die „christlichste der Philosophien“ bezeichnete –
oder sonstwelchen Bemühungen, die Verbindung vom Denken zu einer übersinnlichen Erkenntnis verstehen zu wollen, irgendwie anders aussehen können.
Damit wird man leben müssen. Wer damit nicht leben will, soll irgendwo anders leben und sein weltanschauliches Auskommen finden, aber er wird kein dauerhaftes, tieferes Verhältnis zur Anthroposophie entwickeln können, ob er diese nun nur studieren will oder ob er selber die Wege einer übersinnlichen Forschung beschreiten will.
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